Was soll in einem so abgeschiedenen Provinzstädtchen im amerikanischen Osten schon groß passieren? Wildes Leben eher nicht. Aber auch keine Morde. „Nicht dass ich wüsste“, sagt jedenfalls die füllige blonde Mutter, die sich von der alten Dame Vesta Guhl im Auto hat mitnehmen lassen und verabschiedet sich beim Aussteigen mit den Worten: „Melden Sie sich ruhig! Wir sind alle Nachbarn hier draußen in der Wildnis.“
Es gäbe also einen Weg heraus: aus der Einsamkeit, der Abgeschiedenheit, in die sich die Hauptfigur des Romans von Ottessa Moshfegh „Der Tod in ihren Händen“ zurückgezogen hat. Nach dem Krebstod ihres Mannes Walter, eines Universitätsprofessors, hat sie sich das abgelegene Waldhaus an einem See gekauft, lebt dort mit ihrem Hund Charlie, durchstreift mit ihm auf langen Spaziergängen den Wald. In die Stadt fährt sie nur ab und an. Um sich in der Stadtbücherei ein Buch auszuleihen, sich mit Bagels einzudecken und ein paar wenigen Lebensmitteln: Kohl, Huhn, eine Zwiebel, eine Gurke. „Mein Geist verlangte nach einer kleineren Welt“, so erklärt die Ich-Erzählerin ihr von allen Verpflichtungen, aber auch jeder menschlichen Nähe bereinigtes Leben im Holzhaus am See. Dann findet sie im Wald einen Zettel. „Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“
Weil es an Hinweisen mangelt, reimt sie sich etwas zusammen
Ein Krimi also? So beginnt zumindest dieser Roman, in dem die rüstige alte Dame sich als Privatermittlerin versucht, eine Liste mit Verdächtigen anlegt, sich einen Tarnanzug bestellt, im Internet nach Hinweisen sucht, enttäuscht feststellt: „Die letzte verstorbene Magda, die ich finden konnte, war Magda Göbbels.“ Und weil es an Hinweisen mangelt, wie ja im Übrigen auch an der Leiche oder irgendwelchen Spuren, reimt sich Vesta etwas zusammen, macht aus Magda eine 19-jährige Aushilfskraft aus Belarus mit Himmelfahrtsnase und schwarzem Haar, baut die Dorfbewohner in ihre Version des Mordfalls ein … Was also wie eine Krimi beginnt, wird zum Psychogram.
Eine weitere unzuverlässige Erzählerin im Werk von Ottessa Moshfegh
Mit ihrer Vesta fügt die amerikanische Schriftstellerin Ottessa Moshfegh dem Reigen ihrer einsamen Hauptfiguren, die entlang des Abgrunds taumeln, eine weitere hinzu. In „Eileen“ porträtierte sie eine magersüchtige junge Frau, die in einer Haftanstalt für Jugendliche arbeitet, mit ihrem Vater, einem Alkoholiker, in einer vermüllten Bude haust und sich ihren Hassgedanken hingibt. In „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ – allein des Titels wegen wurde das Buch vergangenes Jahr als passender Roman zur Corona-Krise ausgemacht – schießt sich eine junge, privilegierte Frau in New York mit Tabletten ins Nirgendwo. Eine Expertin für kaputte Heldinnen also, die nichtsdestotrotz den Widrigkeiten des Lebens auf ihre Weise trotzen. Nun also die unzuverlässige Erzählerin Vesta, 72, die gerne etwas säen möchten im Beet vor der Hütte, in deren Innerem derweil der Wahn keimt.
Was ist wahr an dieser Erzählung und was nicht?
Der Leser kommt dem Roman und Moshfeghs genüsslichen Spiel mit dem Krimi-Elementen schnell auf die Schliche: Das kann doch nicht alles wahr sein … Was im Bann hält, ist nicht der Fall Magda, sondern der Fall Vesta. Walter, ihr Mann, „Der schöne Deutsche“, entpuppt sich im Laufe ihrer Erzählung als elender Tyrann, der die Frau zu Hause vom Leben fernhielt, während er Studentinnen nachstieg – und Vesta, die harmlose Witwe, als Frau voller Hass und düsterer Gedanken, die die Asche ihres Mannes irgendwann aus der Urne in den kleinen See kippt.
Was ist wahr an dieser Erzählung und was nicht? Ist das Opfer Vesta womöglich auch eine Täterin? Eine „Dichterin“ auf jeden Fall. Moshfegh hält die Spannung, in dem sie in dieser abgründigen Geschichte die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit, Fiktion und Realität mäandernd verschiebt. Selbst in Namen wandern Buchstaben. Da hätten sie aber etwas erlebt, sagt Vesta zum Hund Charlie: „Eine kleine Schauergeschichte. Das bringt den Kreislauf in Schwung, was, mein Schatz?“
Ottessa Moshfegh: Der Tod in ihren Händen. A.d. Engl. von Anke Caroline Burger. Hanser, 256 Seiten, 22 Euro. Hier geht es zur Leseprobe.
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