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Buchrezension: "Zitronen" von Valerie Fritsch: Wo Heimat und Gewalt zu Hause sind

Buchrezension

"Zitronen" von Valerie Fritsch: Wo Heimat und Gewalt zu Hause sind

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    "Zitronen" von Valerie Fritsch: Wo Heimat und Gewalt zu Hause sind
    "Zitronen" von Valerie Fritsch: Wo Heimat und Gewalt zu Hause sind Foto: Montage AZ

    Die Schriftstellerin Valerie Fritsch benötigt nur ein paar Sätze, um den Grundton für ihren Roman „Zitronen“ zu setzen. Im kleinen Dorf unterhalb der Berge kann man sogar im Sommer frieren, die Katzen sind den Mäusen ein schöner Tod, die Alten erzählen den Kindern, dass sie alle Männer grüßen sollen, weil sie nicht wissen können, wer der Vater sei. Wer glaubt, dass es von da an nur besser werden könne, sieht sich nach den 180 Seiten getäuscht. Aus dieser kleinen Welt gibt es kein Entrinnen, das muss auch August Drach lernen. 

    Virtuos legt Valerie Fritsch Schicht um Schicht das Gewaltbeziehungsgeflecht

    Es geht unter die Haut, wenn Fritsch mit chirurgischer Präzision von ihm und seiner Familie erzählt. Die Mutter himmelt berühmte Frauen an, lässt Tag und Nacht den Fernseher laufen und ist von der Realität enttäuscht. Der Vater verdient das Geld auf Flohmärkten, trinkt und misshandelt seinen Sohn. Gleichgültig, was August Drach macht oder sagt, er ist schuld und verdient eine Bestrafung. Die Mutter lässt ihren Alkoholiker-Mann gewähren und missbraucht ihren Jungen danach emotional – mit übertriebener Mutterliebe. „Alle belogen einander, und nicht zuletzt sich selbst, in diesem Haus, und jede weitere Lüge machte sie gierig, auch die nächste zu glauben“, schreibt Fritsch. 

    Dann bringt die Autorin Bewegung in die Konstellation. Der Vater verschwindet, ein kurzer Frühling setzt für August Drach ein. Doch die Mutter findet keine Nähe mehr zum Kind, das nicht misshandelt wird. Ein Zustand, den sie nicht aushalten kann. Also sorgt sie für die mysteriösen Krankheiten ihres Kindes, in dem sie ihm Medikamente für schwere Parkinson-Fälle als Medizin gibt. August Drach fühlt sich danach tatsächlich krank, er wird müde, schläfrig und schwindlig. 

    Virtuos legt Valerie Fritsch Schicht um Schicht dieses Gewaltbeziehungsgeflechts frei. Mit ihrem dauerkranken Sohn heischt die Mutter als Ewig-Fürsorgliche um Bedeutung, bezirzt den Dorf-Arzt und macht ihn später, als beide schon ein Paar sind, zum Komplizen. Mit dem Jungen August Drach hat man Mitleid. Aber hat ein Junge, dem dies alles widerfahren ist, tatsächlich eine Chance im Leben? Kann er belastbare Beziehungen aufbauen? 

    In "Zitronen" zeichnet Valerie Fritsch das Bild eines Versehrten

    Da fällt die Antwort von Fritsch vollkommen kitschfrei aus. In dem erwachsenen Drach steckt diese Kindheit drin. Die physische Gewalt seines Vaters verdrängt er, den Missbrauch seiner Mutter hat er nie erkannt. Als Kellner arbeitet er in der Großstadt nachts in der Bar. Er lebt in einem großen Wohnblock, in dem abends auf dem Dach beim Grillen auch ein Schwerverbrecher seine Geschichten erzählt. 

    Der erwachsene Drach hat es gelernt, Fremden nicht nur Getränke, sondern auch abenteuerliche Lügengeschichten zu servieren. Manchmal stecken ihm die Fremden aus Mitleid Geld zu. Fritsch zeichnet das Bild eines Versehrten. Als August Drach eine Frau kennenlernt, in die er sich verliebt, für die er Gefühle entwickelt, fehlt ihm jedes Wissen über Liebesbeziehungen. Fast schon zwangsläufig verfällt er in Muster, die er kennt. 

    Wissen die Menschen, was sie mit ihrer Gewalt anrichten?

    Bis zur Neige schöpft Fritsch das aus, verschont ihre Leserinnen und Leser mit nichts. Am liebsten würde man das Buch weglegen. Aber die junge Schriftstellerin findet das richtige Maß zwischen Distanz und Nähe. Sie packt jede Menge Tempo in diesen Lebensweg. Es geht ihr darum, die Geschichte verständlich zu machen, nicht sie auszukosten. An den Rändern tauchen scheinbar zufällig Figuren auf, gleichzeitig dienen sie aber auch als Spiegel oder Vergrößerungsgläser. Wissen die Menschen, was sie mit ihrer Gewalt anrichten? Ahnen sie, wann sie zu Verbrechern und Mördern werden? Schon verurteilte Straftäter haben damit Schwierigkeiten. 

    Die Motive, die Fritsch einstreut, etwa die titelgebenden „Zitronen“, tauchen alle wieder auf. Die Schriftstellerin knüpft auf den 180 Seiten ein dichtes, belastbares Gewebe. Sie findet dazu auch eine Sprache, die von starken Bildern lebt, ohne dabei je hier ins Selbstverliebte oder dort ins Kitschige abzurutschen, kurzum: eine Empfehlung.

     „Zitronen“ von Valeria Frisch
    „Zitronen“ von Valeria Frisch Foto: Suhrkamp

    Valerie Fritsch: Zitronen. Suhrkamp, 156 Seiten, 24 Euro

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