Der 22-jährige Illja wird von russischen Soldaten vergewaltigt, weil er ein Foto mit ukrainischer Flagge und eine App für sexuelle Minderheiten auf seinem Handy hatte. Die 23-jährige Karina wird in Butscha missbraucht, gefoltert und hingerichtet. Die Verbrechen, an denen sich russische Soldaten im Angriffskrieg gegen die Ukraine schuldig machen, sind erschütternd. Doch die Täter kommen oft ungestraft davon, denn sexuelle Gewalt ist ein wesentliches Instrument der russischen Kriegsführung. Sie schreckt ab, schüchtert ein, traumatisiert, zerstört Familien – und wird kaum thematisiert.
Oksanen zitiert aus Protokollen von Betroffenen und beschreibt Verbrechen
Im Buch „Putins Krieg gegen die Frauen“ setzt sich die finnische Autorin Sofi Oksanen mit der grausamen Realität des Ukrainekriegs auseinander und zeigt, wie Vergewaltigungen, Kastrationen und Deportationen von Kindern systematisch darauf abzielen, die Bevölkerungsstruktur nachhaltig zu verändern. Sexuelle Gewalt gehöre zu den ältesten Waffen der Welt, schreibt Oksanen. Sie werde nicht in allen Konfliktgebieten und nicht von jeder Armee begangen, in Russland aber sei sie ein beliebtes Mittel der Eroberung. „Die Tradition der Straflosigkeit betrifft in Russland nicht nur die Armee. Sie betrifft das gesamte Gesellschaftssystem.“
Da ist nicht nur der 32-jährige Vater und Soldat, der in ein ukrainisches Haus eindringt, den Besitzer tötet und dessen Frau vergewaltigt. Da ist auch die russische Ehefrau, die ihrem Mann am Telefon erlaubt, ukrainische Frauen zu missbrauchen. Das Gespräch wurde mitgeschnitten, vieles ist dokumentiert, Oksanen zitiert aus Protokollen von Betroffenen, nennt Fälle, doch die Aufklärung steht noch am Anfang. „Sexualverbrechen in einem Krieg sind kein Mysterium, das von selbst geschieht oder auf eine Weise, die wir nicht begreifen“, betont die Autorin und liefert Gründe für die Gewalt.
Oksanen liefert Hintergründe zur russischen Geschichte und Proaganda
Demnach ist Frauenhass in der russischen Gesellschaft tief verankert. Er wird sowohl innenpolitisch instrumentalisiert, um die männliche Vorherrschaft im Kreml zu sichern, als auch außenpolitisch, um mit Ländern zu kooperieren, in denen die Rechte von Frauen ebenfalls mit Füßen getreten werden. In Russland würden Vergewaltiger nicht strafrechtlich verfolgt, sondern zu Helden stilisiert, schreibt Oksanen. Putin selbst zitierte schon öffentlich ein Lied, in dem Vergewaltigung gepriesen wird, und lobte die Taten des israelischen Ex-Präsidenten Mosche Katzav, der wegen Vergewaltigung im Gefängnis saß.
In ihrer Analyse fokussiert sich Oksanen nicht nur auf das Thema Misogynie, sondern liefert Hintergründe zur russischen Geschichte, zum imperialistischen Denken und dazu, wie der Kreml Feindbilder etabliert und die eigene Bevölkerung unterdrückt. Sie beschreibt Kontinuitäten vom sowjetischen Russland bis heute und erzählt von ihrer eigenen Familie. Von der Großtante, die während der sowjetischen Besatzung Estlands vergewaltigt wurde und danach kein Wort mehr sprach. Vom Veteranen, der für die Rote Armee zwangsmobilisiert wurde, und davon, wie sie in ihrem Tagebuch die Besuche in der Sowjetunion unerwähnt ließ, weil sie schon als Kind verstanden hatte, worüber sie besser nicht schreibt.
Der Text wirkt sprunghaft, aber die Wut ist der Autorin anzulesen
Die Gewalt der russischen Besatzer hat sich ins familiäre Bewusstsein eingebrannt, die Sorge vor einer Expansion Russlands war in den osteuropäischen Ländern auch nach dem Zerfall der Sowjetunion immer spürbar. Der Krieg in der Ukraine habe den Westen auch deshalb überrascht, „weil die historische Erfahrung Osteuropas im Westen für nicht wichtig genug gehalten wurde“, konstatiert Oksanen. Das Vorgehen Russlands in der Ukraine bezeichnet sie schon jetzt als „Genozid“, denn das Land werde nicht nur erobert, sondern die Menschen würden ihrer Sicherheit, ihrer Kultur und ihrem Selbstwertgefühl beraubt – auch mit dem Mittel der Vergewaltigung.
Oksanen will den Opfern eine Stimme geben. Sexuelle Gewalt sei das Kriegsverbrechen, dem am wenigsten Aufmerksamkeit zuteilwird und das historisch unterschätzt ist, schreibt sie. Schwer zu lesen ist ihr Essay schon wegen des Inhalts, die Verbrechen und teils explizit beschriebenen Foltermethoden haben es in sich. Der Stil macht die Lektüre nicht einfacher. Teils wirkt der Text wie eine hektisch verfasste Brandschrift, sprunghaft und unstrukturiert, die Kapitel bauen nicht aufeinander auf, manchmal wiederholt sich die Autorin, aber die Wut ist ihr anzulesen.
Sofi Oksanen: Putins Krieg gegen die Frauen. Aus dem Finnischen von Angela Plöger und Maximilian Murmann. Kiepenheuer & Witsch. 336 Seiten, 24 Euro.