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Neben der Spur: Inga Machels Roman "Auf den Gleisen"

Literatur

"Auf den Gleisen" von Inga Machel: Wenn das Leben aus der Spur gerät

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    "Auf den Gleisen" von Inga Machel: Wenn das Leben aus der Spur gerät
    "Auf den Gleisen" von Inga Machel: Wenn das Leben aus der Spur gerät Foto: Montage AZ

    Einstieg bei vollem Tempo, auf dem Gleis in Richtung Selbstzerstörung, so beginnt Inga Machels Roman. „Ich dachte, ich müsste jemanden Umbringen“, erinnert sich Mario. Jemanden umbringen, weil an jenem Tag ein Mensch, den er vielleicht mehr geliebt hat als jeden anderen, sein eigenes Leben vor den Zug geworfen hatte. Marios Vater hat sich umgebracht. Und vielleicht war er, der Sohn, ja selbst auch Schuld daran? 

    „Auf den Gleisen“ heißt der erste Roman der Wahlberlinerin Inga Machel. Darin schleudert der Tod des Vaters einen jungen Mann aus dem Leben, er gerät weit neben die Spur und verschwindet im Großstadtnebel von Berlin. In Suff und Sex sucht er Halt und ein Betäubungsmittel gegen die Erinnerung. Verlorene Väter, verlorene Söhne, verlorene, schmutzige Ecken der Hauptstadt – Inga Machel verpackt das alles mit Macht und Tiefenpsychologie in eine Sprache der Straße. 

    Im Schnelldurchlauf von Bildern erzählt Inga Machel die Familiengeschichte

    Inga Machel, geboren 1986, hat Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim studiert und das meint man auch beim Lesen zu spüren. Sie arbeitet mit allen Techniken und Tricks des Erzählens: Wie in einem Daumenkino blättert Mario zu Beginn durch ein Familienalbum mit Fotos aus besseren Tagen. Aber waren sie jemals besser? Hier Vater schlecht gelaunt. Dort Vater traurig. Hochzeitstag. Gartenparty. Urlaub in San Francisco, „mein Vater lächelt abgemüht“. Vater aber auch einmal etwas glücklicher. Vater in Sepia, mit der Mutter und mit Marios Bruder Ron. 

    So legt Machel das Mosaik einer Familie, im Schnelldurchlauf der Bilder. Aber wer war schuld an Vaters Depression? Welche Rolle hat er, Mario, dabei gespielt? Zweifel kommen ihm beim Blättern durch Bilder aus einer Zeit vor seiner Geburt: „Dass es für mich zwar keine Welt ohne ihn geben kann, für ihn aber eine Welt ohne mich zweifellos gegeben hatte, warf mich vollständig um“. 

    Machels Roman hätte genauso gut mit einem Satz aus Tolstois „Anna Karenina“ beginnen können: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.“ Mario forscht in der Familienpsyche und lernt dabei, dass sich ein Trauma auch vererben kann. Mario denkt an seine halsstarrigen Großeltern: „Ich glaube, sie hielten meinen Vater für einen armen Irren, der die falsche Frau geheiratet und nichtsnutzige Kinder mit ihr gezeugt hatte.“ Und Vaters Schwester? Versuchte 15-mal, sich umzubringen. 

    Der Roman "Auf den Gleisen" atmet Berliner Luft – es stinkt nach Alk und Urin

    Diese Familie konnte Mario keine Sicherheit bieten und er fragt sich, was sich viele fragen, mit dem Abstand der Jahre: War die Liebe des Vaters vielleicht doch nicht so bedingungslos? War sie manchmal gar nicht mehr da? Vielleicht sanken auch deshalb seine Schulnoten in den Keller, er begann zu trinken und zu trotzen. Die Bilder, Gerüche, Geräusche und Geschmäcker von damals verfolgen Mario jetzt wieder, Machel spricht dabei jeden Sinn an. 

    Die Spurensuche in der Geschichte, im alten Familienleben, das irgendwo im ostdeutschen Brachland spielte, an einem Ort namens Zollfeldt, ist die eine Spur des Romans. Die zweite führt nach Berlin. Dort taumelt Mario durch ein Studium und bald in den Suff, mitten in die Härte der Straßen. Und fünf Jahre nachdem der Tod des Vaters die Familie zerbrochen hat, nimmt Mario in Berlin plötzlich eine Fährte auf: Er sieht einen Unbekannten, einen Junkie auf der Straße, der ihm aber unheimlich vertraut erscheint. Er nennt ihn „P.“ – und beginnt ihm heimlich zu folgen. 

    Inga Machels Roman atmet Berliner Abluft, er stinkt nach Restmüll, nach Urin und Alk und anderen Flüssigkeiten, zwischen „Kotti“, Alexanderplatz und dem Schäfersee in Reinickendorf. Beim Lesen kommt einem schnell der Verdacht, dass die Autorin jeden Weg, den Mario einschlägt, auch selbst für die Recherche gegangen ist. Die Hauptstadt hält her als krätzige Fototapete, in der sich die Figuren zwischen U-Bahn-Stationen eine Verfolgungsjagd leisten. Aber ohne böse Absicht. 

    Der Roman lässt durchblicken, dass Inga Machel in der Psychotherapie arbeitet

    Mario wird zum Voyeur, der hinter P. um jede Ecke schleicht, sogar in dessen Wohnung einsteigt. Er sieht, wie sich P. halbtot auf einer Bank krümmt, sich Heroin spritzt, bleibt aber meistens regungslos. Ist das eine Elends-Safari durch den Großstadtsumpf? Marios Beobachtungen bleiben auf halb warmer, halb kalter Distanz, als wüsste er nicht, was dieser Mann mit ihm selbst und seiner eigenen Verlorenheit zu tun hat. In diesen Szenen lässt der Roman durchblicken, dass Machel im Nebenberuf auch als Heilpraktikerin für Psychotherapie arbeitet. 

    So eine gründliche, lebensaufräumende Therapie würde Mario guttun. Sein Blick verschwimmt, die Gegenwart verwischt sich mit der Erinnerung, der Vater und der Junkie fließen als Figuren langsam ineinander: Eine Szene des Vaters im Krankenhaus, nach einem Selbstmordversuch. Schnitt. Eine Szene des Unbekannten, in einer Lache von Urin. Mario erinnert sich an den Moment, als die Nachricht einschlug: „Am Tag darauf rief Mutter mich gegen Abend an, weil ein ICE, der zweihundert Kilometer in der Stunde gefahren war, meinen Vater mitgenommen hatte, der sich entschlossen zu haben schien, auf den Gleisen auf ihn zu warten.“ 

    Gewalt und Elend blubbern aus Machels Sätzen, in einer harten, puren Dosis. Das ist magischer Realismus, aber auf die Berliner Weise. Hochdruckliteratur, in gut 150 Seiten gepresst. 

    Inga Machel: Auf den Gleisen. Rowohlt, 160 Seiten, 22 Euro

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