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Denis Scheck enthüllt: Geheimnisse hinter 20 Jahre Bestsellerliteratur

Frankfurter Buchmesse

Denis Scheck: „Wenn Blicke töten könnten, hätte ich keine Buchmesse überlebt“

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    Denis Scheck, ARD-Literaturkritiker, hier während er auf der Frankfurter Buchmesse  ein „Best of Druckfrisch" präsentiert.
    Denis Scheck, ARD-Literaturkritiker, hier während er auf der Frankfurter Buchmesse ein „Best of Druckfrisch" präsentiert. Foto: Arne Dedert, dpa (Archivbild)

    Herr Scheck, ich zitiere aus Ihrem neuen Buch „Schecks Bestsellerbibel“: „Dieser aus dem protoliterarischen Urschleim gekrochene Einzeller der Erbauungsliteratur“ … So beginnen Sie Ihre Beurteilung eines der zehn meistverkauften Romane aller Zeiten, „Der Alchimist“ von Paulo Coelho. Wie viel Spaß haben sie beim Schreiben solcher Sätze? Oder loben Sie lieber? 
    DENIS SCHECK : Verrisse schreiben sich leichter als Lobeshymnen und lesen sich auch lustiger. Aber ich bin kein Zyniker und möchte auch keiner werden. Natürlich halte ich mich lieber im hellen Schein von Schönheit und Intelligenz auf als im Schatten des Hässlichen und Abgeschmackten. Deshalb lese ich lieber Zadie Smith, Chimananda Ngozi Adichie oder Saša Stanišić als Paulo Coelho.

    In ihrer Sendung „Druckfrisch“ halten sie regelmäßig Strafgericht über die aktuellen Bücher auf den Bestsellerlisten: Die guten aufs Tischchen, die schlechten landen auf einem Laufband und schließlich in der Kiepe. In der letzten Sendung waren das bei Belletristik von zehn nur vier Bücher, die vor ihren Augen bestanden. Weshalb stehen ihrer Ansicht nach so viele „absurd schlechte Bücher“ auf den vorderen Rängen der Bestsellerliste? 
    SCHECK : Ich glaube, das liegt zum Teil an einem semantischen Missverständnis im Deutschen. Wenn wir „Bestseller“ hören oder lesen, glauben wir naiverweise unwillkürlich, das habe irgend etwas mit dem „Besten“ zu tun. Bestseller sind aber nur die meistverkauften Bücher. Das Meistverkaufte ist selten das Beste. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen der meistverkauften Pullover auf dem Leib, eine der meistverkauften Armbanduhren am Handgelenk oder eine der meistverkauften Mahlzeiten im Magen. Ich wette, dass Sie damit nicht sonderlich glücklich wären. In der Mode, in der Feinmechanik und in der Kulinarik setzen wir auf das Exquisite und Elitäre. Warum sollte das in der Kunst und Literatur anders sein?

    Mehr Schund als Schätze? Müsste das Label „Spiegel-Bestseller“ den Leserinnen und Lesern eigentlich eine Warnung sein? 
    SCHECK : Es ist eine Warnung, und Kundige wissen sie auch zu verstehen. Aber das Wunder bei der Beschäftigung mit der deutschen Bestsellerliste liegt eigentlich darin, dass es neben der Unmenge an Schund über die Jahre immer wieder auch Bücher von Autoren auf die Liste schaffen, die wirklich bemerkenswert sind. Romane von Daniel Kehlmann oder Philip Roth, Jenny Erpenbeck, Terezia Mora, Thomas Hettche oder Salman Rushdie, ein Gedichtband von Jan Wagner, die Tintenwelt-Bücher von Cornelia Funke oder Neues aus Zamonien von Walter Moers. Es ist ein durchaus tröstlicher Gedanke, dass es für solch anspruchsvolle Literatur noch ein Publikum in Deutschland gibt. In den USA sieht das zum Beispiel ganz anders aus.

    Warum orientieren sich Buchkäufer ganz offensichtlich gerne am Massengeschmack?
    SCHECK : Aus demselben Grund, aus dem viele Menschen Handtaschen von Prada kaufen, obwohl es Handtaschen von besserem Design und aus besserem Material für weniger Geld woanders gibt: Es fehlt an Orientierung. Geschmack muss man schulen.

    Sie stellen im Buch die Zehn Gebote des Lesens auf. Erstes Gebot: „Lesen Sie skeptisch. Trainieren Sie Ihr Gespür für den Unterschied zwischen Brillanz und Blödsinn.“ Hoffen Sie noch, die Leute zu besserer Literatur bekehren zu können?
    SCHECK : Aber ja, das ist doch gewissermaßen die Geschäftsgrundlage aller Literaturkritik! Wer genau liest, Bilder auf ihre Stimmigkeit überprüft, Widersprüche in Argumentationsketten erkennt, sich nicht einlullen lässt und hellwach bleibt für die Schönheiten von Texten, aber auch für ihre Untiefen und Abgründe, hat mehr vom Lesen. Und übrigens auch vom Leben. Diese Ausbildung kritischer Fähigkeit schützt einen am Ende auch davor, populistischen Rattenfängern wie der AfD auf den Leim zu gehen.

    Auf der Bestsellerliste tummeln sich meist bekannte Autoren. Als Debütantin wie Caroline Wahl mit „22 Bahnen“ einen Bestseller zu landen, ist schwer. Wie ist ihr das zum Beispiel gelungen? 
    SCHECK : Caroline Wahl hat ja im Lektorat und den Pressestellen mehrerer Publikumsverlage wie DuMont, Diogenes und Klett-Cotta gearbeitet und sehr genau beobachtet, was da wie ankommt. Darüber hinaus ist Caroline Wahl aber auch einfach eine gute Autorin, die emotional berührende Familiengeschichten über Unordnung, frühes Leid und Co-Abhängigkeit mitreißend zu erzählen weiß.

    Von welchen Verkaufszahlen sprechen wir eigentlich bei den Romanen auf der Bestsellerliste? 
    SCHECK : Wer mit welchen Absatzzahlen auf der Bestsellerliste landet, schwankt je nach Jahreszeit und Genre. Der Buchhandel macht mit dem Weihnachtsgeschäft rund ein Drittel seines Jahresumsatzes, deshalb ist es im Dezember natürlich viel schwerer, auf einem vorderen Platz in der Belletristik zu landen als im Juli. Generell gilt, dass die Auflagenhöhen im Sachbuch viel niedriger liegen als in der Belletristik, man mit derselben Verlaufszahl eines Buches im Sachbuch unter die Top Ten gelangen kann, während man es in der Belletristik noch nicht mal in die Top Twenty schafft. Was inhaltliche Veränderungen anlangt, kann man kurz gesagt die Formel aufstellen: Der Regionalkrimi war in den 2010er Jahren die Hirnpest in Buchform. Heute ist es die Romantasy.

    Einerseits finanzieren Bestseller das übrige Verlagsprogramm mit, andererseits ziehen sie aber auch einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich und von anderen Büchern ab … Schon an der ersten deutschen Bestsellerliste 1927 übte das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels Kritik: Die Liste führe zur „Verengung und Verflachung des geistigen Lebens“. Wie sehen Sie das? 
    SCHECK : Ich bin da sehr entspannt und setze auf Aufklärung – dazu möchte mein Buch ja einen Beitrag leisten. Wichtig ist, dass in den Redaktionen unserer Medien verantwortungsbewusste Menschen mit gutem Geschmack ihre Gatekeeper-Funktion wahrnehmen und nicht die Gewaltpornos von Sebastian Fitzek & Co. bejubeln, sondern ihr Hirn einschalten und Kaiser ohne Kleider wie Jojo Moyes oder Peter Hahne zur Gaudi ihres Publikums möglichst pointenträchtig so nackt dastehen lassen, wie sie nun einmal sind.

    Die ersten zehn Titel der Belletristik-Bestsellerliste umfassen derzeit etwas mehr als 3000 Seiten. Wie halten Sie beim Lesen eigentlich durch? 
    SCHECK : Ich lasse mich dafür fürstlich entlohnen – Geld ist mitunter ein großer Trost.

    Die erfolgreichsten Bücher vor fünfzig Jahren, also im Jahr 1974, waren Titel von Siegfried Lenz, Ephraim Kishon, Heinrich Böll, Johannes Mario Simmel und Lilli Palmer … Zu den meistverkauften Bestsellern des letzten Jahres zählten Romane von Sebastian Fitzek, Harry Whittaker, Bonnie Garmus, Robert Seethaler, Martin Suter, Juli Zeh, Nele Neuhaus …. Was sagt so eine Bestsellerliste über die jeweilige Zeit aus? 
    SCHECK : Das Gute, Schöne, Wahre war schon immer rar. Schon Goethe ärgerte sich, dass sich die Räuberpistolen seines Schwagers Vulpius viel besser verkauften als seine eigenen Werke. Und während er sich ärgerte, saß der umnachtete Hölderlin in seinem Turm in Tübingen und schrieb mit Bleistift auf ein Stück Holz des ihn beherbergenden Schreinermeisters folgende Zeilen: »Die Linien des Lebens sind verschieden,/ wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen. / Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen / mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.« Diese vier Zeilen Hölderlin wiegen mir den ganzen Schrott von Fitzek und Neuhaus locker auf. An sie wird man sich noch erinnern, wenn die anderen Namen vergessen sind.

    In der jungen Book-Tok-Community haben Sie sich keine Freunde gemacht, weil Sie an den derzeit höchst erfolgreichen New-Romance-Romanen wie zum Beispiel denen von Colleen Hoover kein gutes Haar lassen. Auch das, wie Sie schreiben, „Hirnpest in Buchform“. Genau solche Bücher aber haben einen regelrechten Leseboom ausgelöst. Freut Sie das als leidenschaftlicher Büchermensch nicht auch ein bisschen? 
    SCHECK : Literaturkritiker sind nicht dazu auf der Welt, sich Freunde zu machen. Mir geht es um Schönheit und Wahrheit, nicht ums Anbiedern an Marketing-Zielgruppen. Ich bin lieber der Sand im Getriebe als das Schmieröl. Und da muss man manchmal eben auch bittere Wahrheiten aussprechen wie die, dass Colleen Hoover genau wie Ihre Kolleginnen Sarah A. Parker, Marah Woolf oder Carissa Broadbent miserable Autorinnen sind, deren stilistische Schwächen nur noch von ihren intellektuellen Defiziten übertroffen werden.

    Bekommen Sie auf Ihre Kommentare auch Reaktionen von Schriftstellern? 
    SCHECK : Wenn Blicke töten könnten, hätte ich sicher keine Buchmesse überlebt. Aber das zählt in meiner Branche zum Berufsrisiko.

    Zum Schluss aber noch einmal zu den Schätzen: Welchen aktuellen Bestseller sollte man unbedingt lesen? 
    SCHECK : Sie meinen, abgesehen von meinem? Zurzeit bin ich sehr begeistert von Arno Geigers wunderbarer „Reise nach Laredo“ – ein Buch, aus dem man leben und sterben lernen kann, der beste historische Roman seit Daniel Kehlmanns „Tyll“.

    Zur Person: Denis Scheck, geboren 1964 in Stuttgart, zählt zu den bekanntesten Literaturkritikern Deutschlands. In seiner Fernsehsendung „druckfrisch“ (ARD) hält er regelmäßig Strafgericht über die Bücher auf den Spiegel-Bestsellerlisten. Scheck wirkt auch als literarischer Übersetzer, Herausgeber und Autor. Unter anderem stellte er in „Schecks Kanon“ die seiner Ansicht nach 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur vor – Von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Struppi“. Neu bei Piper erschienen ist „Schecks Bestsellerbibel: Schätze und Schund aus 20 Jahren“ (432 Seiten, 28 Euro).

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