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Buchkritik: "Die Regeln des Spiels": Geschichten von Gangstern und korrupten Cops

Buchkritik

"Die Regeln des Spiels": Geschichten von Gangstern und korrupten Cops

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    Mit seinem neuen Roman „Die Regeln des Spiels“ schreibt Colson Whitehead seine Harlem-Saga fort.
    Mit seinem neuen Roman „Die Regeln des Spiels“ schreibt Colson Whitehead seine Harlem-Saga fort. Foto: Rolf Vennenbernd, dpa

    Ray Carney hat sich aus dem Gangster-Business zurückgezogen, vertickt jetzt Sofas und Massagesessel statt gestohlene Juwelen. Doch der Wunsch seiner Tochter führt ihn zurück in die New Yorker Unterwelt: Sie will unbedingt aufs Jackson-Five-Konzert. Die Tickets sind längst ausverkauft, wie also welche besorgen, wenn nicht über Umwege? Carney zapft alte Verbindungen an und stößt auf einen Polizisten, der ihm Karten verspricht. Einzige Bedingung: Carney soll ihm bei einem Raubzug helfen. 

    Mit seinem Roman „Die Regeln des Spiels“ schreibt der US-amerikanische Autor Colson Whitehead seine Geschichte über den Möbelverkäufer Ray Carney fort. Nach „Harlem Shuffle“, das im New York der 60er Jahre spielt, geht es weiter ins nächste Jahrzehnt. Die Wirtschaft stagniert, Jobs sind rar und die Hoffnungslosigkeit schlägt immer häufiger in Gewalt um. 

    Trotz der Brutalität erzählt Whitehead seine Geschichte mit Witz

    Die Black Liberation Army setzt auf den bewaffneten Widerstand, um gegen die Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung zu kämpfen, während weiße Polizisten Jagd auf sie macht. Sirenen heulen, Häuser brennen, Junkies setzen sich auf offener Straße den nächsten Schuss oder werden erschossen. Die neu erbauten Twin Towers ragen drohend über der Stadt auf, „wie zwei Cops, die sich überlegen, wofür sie einen drankriegen könnten“. Es wird geraubt, geprügelt, geschachert und gemordet. Ein gefährliches Gemisch aus korrupten Polizisten, Versicherungsbetrügern, Spekulanten, Gangstern und Revolutionären – und mitten drin Carney, der mittelständische Möbelverkäufer.

    In drei Episoden erzählt Whitehead, wie er wieder hineingezogen wird in die New Yorker Unterwelt und wie die Stadt immer weiter verfällt. Im ersten Teil kutschiert Carney einen Polizisten durch die Nacht, der eine Bar überfällt, eine Spielothek ausraubt und einen Kollegen erschießt, um sich mit der Beute ins Ausland abzusetzen. Nach der Amokfahrt weiß Carney nicht mehr, ob er sich im echten oder im New York seiner Albträume befindet. „Vielleicht gab es da keinen Unterschied mehr“, resümiert er. Aber das ist erst der Anfang. 

    Im zweiten Teil dient Carneys Möbelladen als Kulisse für einen Actionfilm über eine schwarze Superheldin, die das weiße Establishment von innen heraus bekämpfen will. Als die Darstellerin während des Drehs verschwindet, geht das Gemetzel weiter. Die Gewalt kommt sprachlich nüchtern und unvermittelt daher. Gerade hängt eine Figur noch ihren Gedanken nach oder der Erzähler schweift in die Vergangenheit ab, da wird im nächsten Satz der Polizeikollege erschossen, ein Handlanger mit dem Baseballschläger malträtiert oder ein Molotowcocktail durchs Fenster geschmissen. 

    Trotz der Brutalität erzählt Whitehead seine Geschichte mit Witz. Jackson-Five-Tickets als Auslöser für eine blutrauschige Amokfahrt, allein das ist absurd. Da hilft ein eiskalter Knochenbrecher dann auch mal der Restaurantbetreiberin, an das Chicken-Rezept ihrer Rivalin zu kommen, und darf als Belohnung lebenslang kostenlos Hähnchen essen. Der Übersetzer Nikolaus Stingl hat den Slang des Harlemer Untergrunds übrigens wunderbar eingefangen. 

    Der Rassismus ist eingeschrieben in die DNA des Landes

    Der dritte und letzte Teil des Romans spielt im Jahr 1976. Harlem brennt. Häuser stehen in Flammen, was teils auf Brandstiftung, vor allem aber auf eine misslungene Stadtplanung zurückführen ist. Als ein Nachbarsjunge bei einem Brand verletzt wird, will Carney wissen, wer dahintersteckt, und schickt einen alten Bekannten los. Am Ende brennt nicht nur die Stadt, auch der Traum vom bürgerlichen Leben ist aus. 

    Das Gefühl der Aussichtsloigskeit schneidet Whitehead gekonnt gegen mit der Begeisterung zur 200-Jahr-Feier der Vereinigten Staaten. Das Gerede von Freiheit und Chancengleichheit ist für Carney nicht mehr als hohle Phrasen: „Es war für ihn unmöglich mitzuspielen und so zu tun, als wäre das, was sie unter Freiheit verstanden, das Gleiche wie das, was er darunter verstand.“ Er sieht in den aktuellen Problemen nur eine Weiterentwicklung der alten. 

    Der Rassismus, dieses System der Unterdrückung, ist allgegenwärtig, eingeschrieben in die DNA des Landes – und er wird fortgeschrieben: „Die Polizei macht Jagd auf Sprayer, aber die Namen der vergaunerten Stadtväter, Sklavenhalter, Bonzen und Zuhälter würden niemals weggewaschen.“ An sie erinnern Straßennamen und Denkmäler. Die Geschichte wird von Weißen geschrieben, auch darin spiegeln sich die ungleichen Machtverhältnisse und die systematische Benachteiligung von Schwarzen wider.

    Whitehead will das ändern. Der zweifache Pulitzer-Preisträger liefert die afroamerikanische Perspektive auf das New York der 1970er Jahre und erzählt seine Geschichte in rasantem Tempo. Szenenwechsel, Rückblenden, Dialoge, Gedankenfetzen, alles durcheinander. Die Handlungsstränge sind actionreich, verlieren sich aber immer wieder an Nebenschauplätze. Da schweift man beim Lesen auch mal ab oder verliert den Überblick. Orte und Charaktere ziehen vorbei, als wäre man mitten drin im Großstadt-Chaos. Manche Gesichter und Begegnungen sind schnell wieder vergessen. Was bleibt, ist ein Kaleidoskop aus Stimmen und Szenen, ein eindrückliches Gefühl für das Leben im New York der 1970er Jahre.

    Social Media ist ihr Beruf, Literatur ihre große Leidenschaft: Tina Lurz spricht im Podcast "Augsburg, meine Stadt" über Buchtipps, Instagram und Freiheit.

    Colson Whitehead: Die Regeln des Spiels. Carl Hanser, 384 Seiten, 26 Euro.

    Colson Whitehead: Die Regeln des Spiels
    Colson Whitehead: Die Regeln des Spiels
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