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Foto: Annette Riedl
Foto: Annette Riedl

Daniel Kehlmann hat mit "Lichtspiel" einen neuen Roman veröffentlicht, der den Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst ins Zentrum rückt.

Buchkritik
13.10.2023

Daniel Kehlmanns "Lichtspiel" – großes Kino!

Von Richard Mayr

Der österreichische Schriftsteller zeichnet wie in einem Kaleidoskop das Leben des Regisseurs Georg Wilhelm Pabst nach, schreibt über dessen Verstrickung mit dem Nationalsozialismus – das liest sich stark.

Heute ist Georg Wilhelm Pabst ein Fall für Filmhistoriker, gehört er zu den Filmemachern der ersten Reihe, die sich nicht fest im kollektiven Kunstgedächtnis verankert haben. Ein Fall also fürs Museum. Und es entspricht dem feinen Humor des Schriftstellers Daniel Kehlmann, diesen Pabst mit seinen Erfolgen in den 1920er und 30er Jahren ins Zentrum seines neuen Romans "Lichtspiel" zu setzen und ihm einen fiktiven Sohn Jakob an die Seite zu geben, der nach Pabsts Tod für das Theatermuseum in München arbeitet. Als er Nachlässe in den USA einsammelt, sagt ihm die gealterte Schauspielerin Louise Brooks, eine Entdeckung von G. W. Pabst, ein Leinwandstar der 1920er und 30er Jahre: "So ein totes Museum! So ein ödes steintotes langweiliges Grab für die Lebenden!" 

Aber wo, wenn nicht in einem Museum?, möchte man ihr über die Buchseiten hinweg zurufen, wenn sich doch sonst niemand mehr erinnert. Gleichzeitig hält man schon 450 Seiten lang Kehlmanns neuen Roman in den Händen und kennt die Antwort: in der Kunst. Kehlmann haucht Pabst und Brooks ein Kunstleben ein, verwebt historisch Verbürgtes, etwa ihren ersten gemeinsamen Film "Die Büchse der Pandora" mit Fiktivem, etwa diesem einen Abend, an dem sie miteinander schliefen, obwohl Pabst mit seiner Trude schon seit Jahren verheiratet war. Nein, bei Kehlmann wird diesem Filmleben kein langweiliges Grab geschaffen, im Gegenteil.

Kehlmann entwickelt ein enormes Interesse am Schatten und dem Dunkel

Man kommt dem Regisseur mit dieser verrückten Biografie nahe: Im Ersten Weltkrieg musste Pabst nicht an die Front, weil er sich beim Ausbruch gerade auf einem Schiff befand, auf der Überfahrt von den USA in die Heimat. Das Schiff wurde gestoppt, Pabst und die anderen Deutschen in Frankreich interniert. Ein möglicherweise lebensrettender Zufall. Als die Nazis 1933 an die Macht kommen, versucht Pabst seine Karriere in Hollywood fortzusetzen, scheiterte dort aber grandios. Er kehrte nach Frankreich zurück und drehte dort. 1939 wollte er wieder in die USA zurück. Weil er noch einmal seine Mutter im Schloss in Österreich besucht, schafft er das aber nicht mehr: Der Zweite Weltkrieg bricht aus. Der "rote" Pabst, der in den frühen 1930er Jahren sehr zum Missfallen von Bertolt Brecht die "Dreigroschenoper" verfilmt hat, arbeitet daraufhin in der nationalsozialistischen Filmindustrie.

Das alles erzählt der Roman, wobei Kehlmann, auch hier wieder der feine Humor des Autors, in "Lichtspiel" enormes Interesse am Schatten und dem Dunkel entwickelt. Es geht schließlich um eine Künstlerbiografie, die mit dem Nationalsozialismus verstrickt ist. Diese Zeit nimmt einen großen Teil des Romans ein. Niemand hat sich nach 1945 gerne erinnert, gleichgültig, wo er politisch stand. Die einen waren Teil oder Mitläufer des Verbrechersystems, die anderen Opfer. Man hätte am liebsten auf ewig Schatten über dieses dunkle Kapitel der Geschichte gelegt. Und die Erinnerung? Wird überschrieben.

Das Magische gehört fest zu Daniel Kehlmanns Erzählkunst

Bei Kehlmann buchstäblich. Wenn Pabst bei Goebbels im Reichspropagandaministerium vorsprechen muss, verschleift sich die Wahrnehmung, tritt Goebbels zweimal nacheinander in den Raum. Der Propagandaminister bearbeitet Pabst, wie sonst Pabst seine Schauspieler bearbeitet, bis er Goebbels Text nachspricht. Später geschieht Ähnliches, wenn Pabsts fiktiver Roman-Sohn Jakob, der im Nazi-Deutschland ein treuer Mitläufer geworden ist, in den Keller des Schlosses in Österreich hinabsteigt und dort dem unheimlichen Hausmeister und strammen Nazi Jerzabek begegnet. Raum und Zeit klaffen auseinander, die Realität verzerrt sich. 

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Es gehört zu Kehlmanns Erzählkunst, das Magische, Irrationale, aber auch teuflisch Böse geschickt einzubinden, dass der Lesende über diese Stellen geflissentlich hinweggeht. Es geschieht beiläufig, verändert aber das Ganze. Die Regeln des Kunstwerks setzen die Gesetze der Physik gelegentlich außer Kraft. 

Die Komparsen ließ Pabst aus einem Konzentrationslager holen

Wie durch ein Kaleidoskop wird dieses Leben von Pabst eingefangen, das Hollywood der 1930er Jahre als ein wilder Dialog auf einer Party voller Exilanten; die groteske Langeweile eines Lesezirkels, zu dem Frauen von hohen Nazifunktionären sich zusammengeschlossen haben, um die stramm nationalsozialistischen Romane von Alfred Karrasch zu lesen; die Dreharbeiten zum verschollenen Pabst-Film "Molander", der auf der Basis eines Karrasch-Romans entstanden ist. 

In diesen Passagen findet sich die abgründigste Stelle des Romans, weil Pabst Hunderte von Komparsen aus einem Konzentrationslager rekrutieren lässt und in Abendgarderobe steckt, um eine Konzertszene vor großem Publikum zu drehen. Der Kehlmann-Pabst lässt für sein großes Kunstwerk alle Moral zurück. Die Kunst bleibe, wenn das Nazi-Reich kollabiert sei, sagt Pabst. Seine Frau entgegnet, dass die Kunst dann blutig und beschmutzt sei.

Deshalb ist "Lichtspiel" nicht nur ein Künstlerroman, sondern auch einer über die Kunst. Kehlmann erweist sich wie Pabst als Meister des Schnitts, der etwa im Prager Aufstand den russischen General Wlassow erwähnt und es seinen Leserinnen und Lesern überlässt, der Spur zu folgen, dem General, der in deutsche Gefangenschaft geriet und eine russische Befreiungsarmee aufbaute, die im Mai 1945 wieder die Seiten wechselte. Und Wlassow? Wurde ein Jahr später in Moskau hingerichtet. Und Pabst? Drehte nach 1945 weiter Filme, die sich kritisch mit der NS-Zeit auseinandersetzten. Ihm gelang der doppelte Seitenwechsel. Und der Roman? Stark, lesenswert, ein klassischer Kehlmann. 

Daniel Kehlmann: Lichtspiel, Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 26 Euro

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Foto: Oh
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