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Buchrezension: "Demon Copperhead" von Barbara Kingsolver: Elend made in the USA

Buchrezension

"Demon Copperhead" von Barbara Kingsolver: Elend made in the USA

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    "Demon Copperhead" von Barbara Kingsolver: Elend made in the USA
    "Demon Copperhead" von Barbara Kingsolver: Elend made in the USA Foto: Montage AZ

    Als Damon Fields an seinem elften Geburtstag ins Direktorat seiner Schule gerufen wird, hofft er auf einen Kuchen, einen Gruß seiner Verwandten, vielleicht ein Geschenk. Nichts davon ist ihm vergönnt. Stattdessen sagt seine Sozialarbeiterin, seine Mutter sei an einer Überdosis Oxycodon gestorben. ganze Landstriche der Vereinigten Staaten nieder. Mit elf Jahren kennt Damon die Droge noch nicht. Sie wird ihm mehr als einmal das Leben zerstören.

    Damon wächst in den südlichen Appalachen auf, in einem Trailerpark in den Wäldern Virginias. „Ich war nicht mal abgestillt, da hatten die Leute schon ‚Demon‘ daraus gemacht.“ In den Trailerparks behält niemand den Namen, mit dem er oder sie auf die Welt kam. Demon nennen sie den Jungen, also 'Dämon', und mit Nachnamen "Copperhead" wegen seines kupferroten Haares. Eine drogensüchtige 18-Jährige bringt Demon auf die Welt. Sein Vater ist ein Melungeon und tot. Als

    Barbara Kingsolver schreibt über ein Amerika in den Fängen der Pharmaindustrie

    Die Autorin Barbara Kingsolver ist selbst in der Gegend aufgewachsen, die sie beschreibt. Kohleindustrie, Tabakfirmen, zuletzt die Pharmaunternehmen, die die arme Landbevölkerung der USA mit Lobbyarbeit und perfiden Marketingkampagnen an sich binden: Die Bewohnerinnen und Bewohner der Appalachen werden seit Generationen ausgebeutet, sagt Kingsolver in Interviews zur Buchveröffentlichung. Die Autorin lebt heute wieder dort. Die Opioid-Krise, die ihre Heimat grundlegend verändert hat, sollte Stoff für einen neuen Roman werden, das sei der Bestsellerautorin schon lang klar gewesen. Einzig habe sie nicht gewusst, wie.

    Dann tourte sie durch England und übernachtete in dem Haus, in dem einst Charles Dickens einen Großteil von "David Copperfield" schrieb. Das Haus in Broadstairs in der Grafschaft Kent wird nämlich inzwischen als Bed-and-Breakfast genutzt. Die Anekdote erzählt Barbara Kingsolver in einem Interview mit US-Moderatorin Oprah Winfrey für deren Buchclub. Nachts, während ihr Mann schlief, sagt Kingsolver, sei sie in Dickens Arbeitszimmer geschlüpft und habe sich an seinen Schreibtisch gesetzt, mit Aussicht auf den Ozean.

    Kingsolver erhielt den Pulitzerpreis und den Women's Prize for Fiction

    'Lass das Kind die Geschichte erzählen. Niemand zweifelt am Kind', soll plötzlich der Geist Dickens zu Kingsolver gesagt haben. Sie habe Gänsehaut bekommen, erzählt sie, und den Ratschlag Dickens selbstredend umgesetzt. Schöne Genese des Romans – selbst, wenn sie nur belegt, was für eine meisterhafte Erzählerin Kingsolver ist.

    Eine der großen sozialen Fragen der US-amerikanischen Gegenwart durch den Filter eines der bedeutendsten britischen Literaten: Für Demon Copperhead wurde Kingsolver unter anderem mit dem amerikanischen Pulitzerpreis und dem britischen Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet. Sie hat Großmeister Dickens einen kleinen Auftritt in Demon Copperhead hineingeschrieben. In Demons Englischunterricht steht er auf dem Programm. Bücher seien größtenteils Zeitverschwendung, erklärt Demon rotzig, aber dieser "Charles Dickens da, ernsthaft alter Kerl, tot und ein Ausländer, aber verdammt, hat er verstanden, was mit Kindern und Waisen schief geht." Und weiter: "Man könnte denken, er wäre von hier." 

    Eine Odyssee durch Pflegefamilien, gesundheitliche Rückschläge und Begegnungen mit schlechten Menschen prägen die Kindheit und Jugend beider Titelhelden – David wie Demon. Bei Dickens rettet die Schriftstellerei den Titelhelden. Kingsolvers Demon Copperhead ist ein begabter Zeichner und fängt seine Umgebung in sozialkritischen Comics ein.

    Die Neuerzählung von Dickens "David Copperfield" in der Opioid-Krise

    Auf über 850 Seiten lernen Leserinnen und Leser in Demon einen aufrichtigen, furchtlosen und superklugen Typen kennen. Er feiert Erfolge als Footballspieler, verliebt sich unsterblich – doch jeder Silberstreifen am Horizont zieht ihn nur noch tiefer in den Abgrund. Demon ist hungrig, er ist dreckig, er verrichtet Kinderarbeit, erlebt Ausbeutung und Missbrauch: Leicht vergisst man bei der Lektüre, dass Demon keine historische Figur ist, sondern im Amerika kurz vor der Jahrtausendwende lebt. Bald ist die einzige Konstante in seinem Leben die tröstende Umarmung der Opioide.

    Kingsolvers politischer Kommentar ist nicht subtil: Die Hinterwäldler, die sogenannten Hillbillys, werden seit Jahrzehnten von Pharmariesen als Kollateralschaden in Kauf genommen. Massenhaft bekommen sie Schmerzmittel verschrieben, massenhaft wurden und werden sie davon abhängig. Fentanyl-Flecken auf T-Shirts, Arbeitslosigkeit, Armut. Manche wehren sich mehr, andere weniger gegen die Abwärtsspirale, die von Beginn an feststeht.

    Demon möchte das Meer sehen. In der Stille und Unermesslichkeit des Ozeans hofft er endlich zu finden, was er in Drogen sucht: innere Ruhe. Er macht sich auf den Weg an die Küste. In einem mitreißenden Showdown führt ihn seine Reise stattdessen durch die dichten Wälder der Appalachen an den Ort, an dem sein Vater ertrunken ist. Sie nennen den See Devil's Bathtub, die Badewanne des Teufels. Dort wiederholt sich die Geschichte auf tragische Weise.

    Barbara Kingsolver: Demon Copperhead, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Deutscher Taschenbuchverlag, 864 Seiten, 26 Euro

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