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Brettspiel: "Mensch ärgere dich nicht": 110 Jahre Schadenfreude

Spielfiguren liegen am auf einem «Mensch ärgere dich nicht!» Spielbrett.
Brettspiel

"Mensch ärgere dich nicht": 110 Jahre Schadenfreude

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    Jetzt, eine Nacht danach, haben sich die Gemüter beruhigt. Oder sagen wir, alle Beteiligten haben sich wieder unter Kontrolle. Gelb, so viel kann man sagen, hätte jedenfalls allen Grund gehabt, das Spielbrett an die Wand zu schmeißen. Versagen auf fast ganzer Linie. So sehr hat sich Gelb dann doch nicht geärgert. Zumindest nicht öffentlich. 

    „Mensch ärgere Dich nicht“, dieses so einfache wie genialische Brettspiel, bewegt die Gemüter seit langer, langer Zeit. 110 Jahre ist es her, dass Josef Friedrich Schmidt in der Münchener Lilienstraße in einer kleinen Giesinger Werkstatt ein Brettspiel entwarf. Den genauen Tag seiner die Familien aufwühlenden Erfindung wird man nicht bestimmen können. Auf jeden Fall ziert seit 2010 eine der allzu typischen Spielszenen eine Briefmarke. Der mit dem roten Kopf könnte übrigens Gelb gewesen sein bei einer Partie nach Redaktionsschluss. Ein runder Tisch, die bunten, etwa zwei Zentimeter hohen Kegelchen, vier Würfel (für jeden einen, so viel Aberglaube muss sein), Knabbereien und Kaltgetränke, dazu eine Stunde Zeit, denn genauso lange hat es gedauert, bis einer – es war Schwarz – nicht mehr zu schlagen war.

    Schwarz

    Es ist zwar sehr schade, aber das Fazit des Abends muss lauten: Grün hat sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, aber Grün ist nun mal Zweiter geworden. Diesen unsympathischen Spruch mit „Zweiter ist erster Verlierer“ könnte man sich da eigentlich schenken. Muss man aber nicht. Warum sich also mit dem Rest aufhalten. Es war ein schöner Abend. Sollen die anderen doch ihre Niederlagen aufarbeiten. Es gibt Spannenderes: Zum Beispiel die Geschichte dieses Spiels, dessen gewerbliche Produktion 1914 begann. Damals wurde auch der Schmidt Spieleverlag gegründet. 

    Zuvor war „Mensch ärgere Dich nicht“ eher ein Spiel im Bekanntenkreis. Schmidt hatte es auf der Grundlage von „Ludo“ oder „Eile mit Weile“ für seine drei Kinder entworfen. Aber auch nachdem er sich schon für die gewerbliche Produktion entschieden hatte, kam das Geschäft noch nicht so recht in Schwung. Er spendete 3000 seiner Spiele an die Armee und die Lazarette in den Kriegszeiten und die vergaßen beim Würfeln, Vorrücken, Rausschmeißen zumindest für eine Weile, was sie in diesen finsteren Kriegszeiten so alles bedrückte. Mit dem Frieden kam für Schmidt der Durchbruch. Schon 1920 erreichte das Spiel eine Millionenauflage. Viele gewannen wie Schwarz, aber viele mussten sich ärgern wie Grün.

    Grün

    Das Fazit des Abends muss lauten: Rot und Gelb sind ungemein lustig und nett, aber man darf ihnen nicht uneingeschränkt trauen. Behaupten zu Beginn: „Es herrscht Schlagzwang.“ So sei die Regel. Basta. Und Grün glaubt es einfach. Macht mit. Kann keine Taktik entwickeln. Kein Mitgefühl zeigen. Muss schlagen und schlagen und schlagen. Auch weil Schwarz sich unwissend gibt. Und liest erst am nächsten Tag die Anleitung, in der unmissverständlich steht. „Es herrscht aber kein

    Aber der Reihe nach: Grün beginnt gut. Grün ist unauffällig. Grün würfelt sechs. Rot schimpft. Schwarz schimpft. Gelb schimpft. Im Übrigen will Schwarz Rot immer auslassen, aber zu Schwarz kommen wir noch später. Wichtig ist: Grün bleibt gelassen und schnell und hat als Erster ein Männchen im Ziel. Schwarz übrigens sagt: Das heißt nicht Männchen oder Spielfigur, sondern Pöppel. Oh, wie muss Grün da lachen. Wie Popel, nur mit Pünktchen und Doppel-p. Aber Schwarz hat sich davor informiert, alles über die Geschichte gelesen und ist sich sicher. Nur in die Anleitung hat er nicht geschaut. Da hätte gestanden, dass es Schlagzwang nur als Sonderregel gibt. Schwarz hat jetzt übrigens auch einen Pöppel drin. Ärgerlich. Aber gut. Rot reimt derweil: „Oh vier, da musst du hier . . .“ Gelb ist schon wieder mit allen vieren zurück im Häuschen und ruft: „Alle auf Schwarz.“ Und Schwarz lächelt unschuldig, hebt die Schultern und stiehlt sich aus der Verantwortung: „Ich muss ja schlagen.“ Merke daher: Schlagzwang ist als erzieherisches Mittel ungeeignet.

    Überhaupt, die Erziehung. In deutschen Stuben gilt: Nur wer bei „Mensch ärgere Dich nicht“ ohne Wut und handstreichartige Leerung des Spielbretts verlieren kann, ist bereit fürs Leben. „Das muss sie/er noch lernen“, sagen sonst die anderen Pöppel. Der Abend zeigt: Schwarz, Rot, Gelb und Grün sind erwachsen. Gut, einmal sagt Schwarz zu Gelb: „Du bist wie ein Selbstmordattentäter.“ Mein lieber Pöppel! Aber Gelb lacht. Während Rot unter Missachtung des Spielverlaufes optimistisch ruft: „Es geht voran, es geht voran.“ Und zwar für Schwarz. Obwohl Grün eigentlich besser ist. Aber ständig kommen diese Gelben wieder aus ihrem Häuschen. .. Doch Grün ist erwachsen. Grün freut sich über Platz zwei und denkt: „Schlagzwang, so was Dämliches.“

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    Gelb

    Es ist zwar sehr schade, aber das Fazit des Abends muss lauten: mit Rot, Grün und Schwarz spielt Gelb nicht mehr. Die hätten drauflos gespielt, ohne über die Regeln zu sprechen. Und es gibt sehr viele mögliche Regeln, Gelb hat ja nur die allerallereinfachsten angesprochen und unbedarft gefragt: Wie spielen wir? Mit Schlagzwang? Und schon hatten wir ihn, den Schlagzwang. Gelb konnte doch nicht ahnen, dass Rot, Grün und Schwarz Gelb gar nicht mehr mitmachen ließen. 

    Die Bilanz des Abends ist niederschmetternd. 80 Prozent: alle Männchen im Haus. Drei Prozent: alle Männchen auf der Runde. 17 Prozent: mit tragischen Einzelkämpfern unterwegs. 0 Prozent: Erfolg. Rot, Grün, Schwarz ahnen ja gar nichts vom gelben Gefühlsbad hinter der scheinbaren Fassade der Gelassenheit. Und dann muss Gelb von Grün Sätze hören wie: „Schlagzwang ist für Menschen, die keine Konflikte aushalten können.“ Grün hat keine Ahnung vom Leben. Seit Monaten teilt Gelb mit Grün täglich ein Bounty. Vergangenheit. Kann Grün ruhig aus der Zeitung erfahren. 

    Mehr als 70 Millionen Mal hat Schmidt Spiele dieses Familienspiel – ha, ich lache – auf den Markt geworfen. Ahnen die auch nur im Mindesten, wie viel Konflikt sie in die Welt gebracht haben? Ja, in die Welt. Macht es die bei Schmidt Spiele gar nicht nachdenklich, dass die Amerikaner das Spiel „Frustation“ nennen, die Franzosen „T’en fais pas“ und die Spanier „Non tarrabiare“? Das kommt doch nicht von ungefähr. Nur die Schweizer gehen mit einer bewundernswerten Gelassenheit an die Sache ran und spielen „Eile mit Weile“. Aber wer nimmt die Schweizer in diesen Tagen schon ernst? Schade, Gelb nimmt irgendwie auch keiner mehr ernst. Das liegt am Schlagzwang.

    Rot

    Das Zwischenfazit lautet: Gelb scheint am Ende. Aber ist das wirklich so? Gelb sollte man nie abschreiben. Lehrt schon die jüngere Geschichte. Und Grün? Der Druck, unbedingt gewinnen zu wollen, habe Grün verändert, sagt man. Aber wie? Grün will gewinnen, mit aller Macht. Schwarz auch. Gelb und Rot spielen verhaltener, für beide Farben sieht es nicht gut aus. Hat das eine tiefere Bedeutung? Beim „Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel“ lässt sich wunderbar politisieren. Schon nach zehn Spielminuten scheint sich die politische Situation des Landes widerzuspiegeln. Nur glücklicherweise gibt es hier wenigstens kein Blau! Noch nicht. Blau darf nicht mitspielen.

    Auch der Vormarsch von Grün ist erst einmal gestoppt, Schwarz würfelt die Sechs und greift an. Gelb indes wird ein ums andere Mal nach Hause geschickt. Es herrscht Schlagzwang, fast wie im richtigen Leben. Rot hechelt irgendwie hinterher. "Mensch ärgere Dich nicht" ist auch eine Art Abbildung des Lebens im Schnelldurchlauf. Es ist ein ständiges Schlagen und Geschlagenwerden. Seltsamerweise amüsiert man sich darüber und alle sind sich einig, dass es unterhaltsam ist. Was wäre der Mensch, was der Politiker ohne Schadenfreude? Da ärgern die Grünen Gelb und Gelb hätte gerne eine Koalition mit Schwarz. Geht aber nicht. Die Lage scheint hoffnungslos, weil Schwarz natürlich auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Rot ist mittendrin, aber irgendwie nur dabei. Die Zeiten sind herausfordernd. Die Sechsen würfeln andere.

    „Mensch ärgere Dich nicht“ ist ein Glücksspiel, das Leben irgendwie auch. Das verbindet. Letztendlich ist die ganze Strategie auch in der Politik ohne Fortune keinen Pfifferling wert. Ein interessanter Gedanke, dem man in einer ruhigen Minute nachgehen sollte, ist: Wer wohl für einen selbst im richtigen Leben die Würfel fallen lässt? Nicht so viel nachdenken! Schwarz ist nun schon fast am Ziel. Drei im Häuschen, der vierte Pöppel steht davor. Für einen Augenblick wird Rot zum Helden, der das Spiel offenhält, indem er Schwarz im letzten Moment raushaut. Alle jubeln, nur Gelb nicht. Was das heißt? In jedem Fall geht das Spiel weiter. Und schon schlägt Grün Rot wieder. Was lernt man daraus? Koalitionen sind brüchig und nicht nur im Spiel nichts für die Ewigkeit!

    Dieser Artikel aus dem AZ-Archiv erschien erstmals im Februar 2010 und wurde zum 110. Geburtstag von "Mensch ärgere dich nicht" überarbeitet und aktualisiert.

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