Sie sind frech, unangepasst und selbstbewusst, wollen lieber auffallen als gefallen und dominieren mit ihrer Mir-doch-egal-Mentalität gerade das Netz: Brat Girls. Den Hype um die aufmüpfigen Mädchen hat die britische Sängerin Charli XCX mit ihrem neuen Album losgetreten. 15 Songs, giftgrünes Cover, darauf der Schriftzug „brat“, was auf Deutsch so viel bedeutet wie „Göre“. Hingerotztes Design, aber die klare Botschaft in den Songs: Mädels, sagt eure Meinung, haltet zusammen und macht auch mal einen drauf. Das kommt an.
Unter dem Hashtag „#bratsummer“ finden sich auf TikTok tausende Postings, Tanzvideos zu den Songs der Sängerin gehen viral, auf Instagram gibt es einen Filter mit „Brat“-Schriftzug, Nutzerinnen färben Profilbilder in giftgrün und spätestens seit Charli XCX schrieb, dass US-Vizepräsidentin Kamala Harris „brat“ sei, wollen alle wissen, was das denn jetzt heißt.
Kamala Harris vertritt feministische Werte und beweist Humor
Eine Schachtel Zigaretten, ein BIC-Feuerzeug und ein weißes Top ohne BH sind alles, was man für den „Brat“-Sommer braucht, erklärte die Sängerin. Bislang wurde Harris aber weder oben ohne noch qualmend in der Öffentlichkeit gesichtet. Was die Sängerin sonst noch so gesagt hat? Brat, das sei eine Attitüde, ehrlich, direkt, etwas chaotisch und unberechenbar.
Ob das die Haltung ist, mit der Harris das Weiße Haus erobern will, sei dahingestellt, klar ist: Seit die 59-Jährige in den US-Wahlkampf eingestiegen ist, wird sie im Internet gefeiert, vor allem von jungen Frauen, auch weil Popsängerin Charli XCX sich hinter sie gestellt hat. Die Favoritin auf die Kandidatur der US-Demokraten gibt sich agil, locker und schlagfertig, vertritt feministische Werte und verkörpert damit das Gegenteil von Ex-Präsident Donald Trump.
Und Harris beweist Humor (oder sie hat einfach ein geschicktes Wahlkampf-Team hinter sich, das den Online-Trend erkannte), denn sie wehrt sich nicht gegen das Brat-Girl-Image, sondern bespielt es selbstironisch auf Social Media, um die Gen Z und Millennials zu erreichen. Giftgrün hinterlegte Videos, in denen Harris tanzt oder bei der Pride-Parade mitläuft, sind längst zum Internethit mutiert.
Selbst ihr Lachen geht inzwischen viral, vor allem wegen einer Rede, die sie 2023 an Hispanics gerichtet hatte. Darin erzählt Harris eine Anekdote ihrer Mutter: „Sie sagte immer zu uns: Ich weiß nicht, was mit euch jungen Leuten nicht stimmt. Denkt ihr, ihr wärt einfach aus einer Kokospalme gefallen?“ Sie lacht und schlägt plötzlich einen ernsten Ton an: „Wir alle existieren in einem Kontext von dem, was jetzt ist und früher war.“ Wegen dieser Aussage ist Harris nicht mehr nur „brat“, sondern hat auch ein Erkennungssymbol im Netz: Fans nutzen Emojis von Palmen oder Kokosnüssen. Ein bisschen Spaß muss sein.
Vanilla Girl, Boss Girl, Mob Wive: Wo sind eigentlich die Boys bei all den Labels?
Mit Stieftochter Ella Emhoff hat Harris außerdem ein echtes Brat Girl zu Hause sitzen, denn das 25-jährige Model erfüllt das Image recht gut. Sie bricht mit Schönheitsidealen, sitzt ungeschminkt mit gelangweilter Miene bei Fashion-Shows, trägt selbst gestrickte Tops und Tattoos, die aussehen, als wären sie in einer durchzechten Nacht entstanden. Kann man jetzt auch als weniger aufrührerisch und mehr dem linksliberalen Zeitgeist entsprechend abstempeln, aber ist vielleicht auch einerlei, weil „brat“ nur ein weiteres Label ist, das im aufmerksamkeitsgetriebenen Social-Media-Kosmos als neu zu deklarieren versucht, was nicht neu ist. Mit verlotterten Klamotten, zerronnenem Make-up und Fluppe im Mund sind die Anhängerinnen der „Riot Grrrl“-Bewegung Anfang der 1990er-Jahre auch schon herumgelaufen, waren aber vielleicht politischer und haben mit ihren feministischen Forderungen tatsächlich noch provoziert. Aber wer verlangt Inhalte, wenn er Likes haben kann.
Brat ist das neue cool und Brat Girls sind der Gegenentwurf zu Vanilla Girls. Ach nein, das waren die mit dem Beige-Fetisch. Coquette Girls auch nicht, die lieben Schleifen. Soft Girls, Boss Girls, Strawberry Girls, wo sind eigentlich die Boys bei all den Labels? Aber geht ja hier nicht um Gleichberechtigung. Jetzt also Brat Girls als Gegenentwurf zu den Clean Girls. Vorbei ist es mit Skin-Care-Routine, straffem Dutt und Matcha-Smoothie am Morgen. Abrissparty statt Selbstoptimierung.
Aber hatten nicht die Mob Wives schon Anfang des Jahres zum Radikalschlag gegen die Clean Girls ausgeholt? Die selbst ernannten Gangster-Bräute präsentierten sich mit klobigem Goldschmuck, in Lederoutfits und überdimensionierten Pelzmänteln. Verschlagenheit statt Konformität, wie es sich für die Gattin eines Mafioso gehört. Die einen feierten die Mafia-Braut als unberechenbare Erscheinung, die das Patriarchat unterwandert, die anderen sahen in ihr nur das Anhängsel für den mächtigen Mann.
Aber damit ist es vorbei, die Brat Girls brauchen keinen Gangster an ihrer Seite, um sich stark zu fühlen. Sie geben nichts auf den perfekten Look, den perfekten Body und den männlichen Blick, solidarisieren sich lieber mit den Girls und feiern die Absturz-Ästhetik. Sie stehen für das perfekt Unperfekte - und wollen am Ende womöglich einfach alles sein, frei von irgendwelchen Labels.
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