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Beste Bücher Herbst 2024: Ulrike Draesners Adoptionsgeschichte

Literatur

„Ein Kind und seine Adoptiveltern kleben nicht einfach aneinander“

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    Ulrike Draesner erzählt in „zu lieben“ von einem sehr persönlichen Familienabenteuer.
    Ulrike Draesner erzählt in „zu lieben“ von einem sehr persönlichen Familienabenteuer. Foto: Gerald Matzka/dpa

    Vater, Mutter, Kind. Millionen lassen sich Tag für Tag auf dieses Abenteuer ein. Aber wie fühlt es sich an, in diesem scheinbar allgegenwärtigen Familienkosmos kein leibliches Kind bekommen zu können? Und was macht Familie überhaupt aus in einer Zeit, in der immer mehr Menschen nach alternativen Formen des Zusammenlebens suchen? Vater, Mutter, Kind?

    Von all dem erzählt Ulrike Draesner bemerkenswert offen in ihrem Buch „zu lieben“. Das Wort Roman ließ die Autorin auf dem Buchtitel durchstreichen. Denn es ist ihre eigene Geschichte und die ihrer sri-lankischen Tochter Mary. Und um es gleich vorwegzunehmen, „zu lieben“ ist ein berührendes Buch; über den Begriff Familie wird man nach der Lektüre vielleicht sogar anders denken. Denn darum geht es, was bedeutet es eigentlich zu lieben, so bedingungslos wie es vielleicht nur zwischen Eltern und Kindern möglich ist. Draesner erzählt dieses sehr persönliche Familienabenteuer oft im Plauderton, ihre Tiefgründigkeit jubelt sie den Lesenden quasi unter.

    Anruf im Münchner Café: „Sie bekommen ein Kind“

    Und so beginnt alles in einem Münchner Café, das für seine feinen Schokoladen-Katzenzungen bekannt ist und in dem Draesner gerade sitzt, als der für sie lebensverändernde Anruf einging: „Sie bekommen ein Kind“. Das sitzt. Fünf Jahre lang dauerten die Bemühungen der Autorin und ihrem heutigen Ex-Mann Hunter schon an, ein Kind adoptieren zu dürfen. Die Vorgeschichte: viele Versuche auf natürlichem Wege ein Kind zubekommen, Fehlgeburten und mit 46 „die fruchtbaren Jahre – vorbei. Sowas von“. Nun also Mary, drei Jahre alt, die in einem Kinderheim in Sri Lanka lebt, ihre leibliche Mutter selbst noch ein Kind.

    Es ist ein schwieriges Annähern in Sri Lanka. „Ein Kind und seine Adoptiveltern kleben nicht mir nichts dir nichts aneinander. Auch wenn man offenen Herzens anreist, ohne Arg“, schreibt Draesner. Mary ist eine Meisterin des In-Sich-Zurückziehens, spricht ohnehin kaum, hinkt der Entwicklung hinterher, öffnet sich nicht, will nicht berühren und lässt sich nicht berühren. Das macht zu schaffen. Ulrike Draesner lässt ihre Leser teilhaben an ihren Gefühlen, ihren Zweifeln, auch an einer gewissen Ernüchterung, dem Moment der ersten Begegnung: „Ich fand es nicht entzückend. Dann fand ich es entzückend. Sekunden später sah es wieder nur so-was-von-fremd aus“. Sie beschreibt ihre Bestechungsversuche mit immer neuen Geschenken, um vielleicht auf diese Weise das Mädchen für sich gewinnen zu können. Familie, dieses ständige Ringen um Miteinander. Aber wie fremd müssen diese bleichen Erwachsenen in diesem Kinderheim voller dunkelhäutiger Kinder wohl wirken?

    Draesner wirft die großen Fragen des Lebens auf

    Und so leicht wie sie ganz nebenbei über sri-lankische Currys, Schildkröten, und Treewiller, Three-Wheeler, also jene typischen dreirädrigen Fahrzeuge auf der Insel erzählt, so schnell und prägnant wirft sie in den vielen kurzen Textstücken, die dieses Buch ausmachen, auch die großen Fragen des Lebens auf. „Welche Bedeutung hat Herkunft und welche Bedeutung wollen wir ihr beimessen?“ Heißt Muttersein heutzutage noch immer selbst ein Kind auf die Welt zu bringen? Und sie erzählt vom Leben im Kinderheim, wo die Grundbedürfnisse hunderter Kinder versorgt werden, aber – wie denn auch, auch das stellt Draesner heraus – keine Zeit für Herzlichkeit ist.

    Was das Besondere an diesem Buch ist? Vor allem wie weit Ulrike Draesner die Tür in ihr Leben öffnet. Ein Buch voller Empathie. Dazu spielt Draesner mit Worten – und stellenweise hat das Buch etwas von einer Werkschau, manche Worte, Nebensätze und kleine Passagen sind durchgestrichen, als ob die mehrfach ausgezeichnete Autorin, mit einer Wortwahl oder einem Gedankengang hadern würde. Dazu wunderbare kleine Buchstabenbilder am Beginn ausgewählter Kapitel, die – leider viel zu klein – fast ohne Worte, vom Humor der Autorin erzählen. Die Beziehung zu Mary ist übrigens eine gute geworden, aus der Annäherung von Mutter und Tochter wurde Liebe.

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