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Bestandsaufnahme: Die Lyrik – wirklich ein Gedicht? So steht es um die Kunst heute

Bestandsaufnahme

Die Lyrik – wirklich ein Gedicht? So steht es um die Kunst heute

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    Dichter- und Dichterinnentypen (von links oben nach rechts unten): Amanda Gorman, Eugen Gomringer, Judith Zander und Jan Wagner.
    Dichter- und Dichterinnentypen (von links oben nach rechts unten): Amanda Gorman, Eugen Gomringer, Judith Zander und Jan Wagner. Foto: Nicolas Armer, dpa/Kritzolina/DOD Carlos Velazquez II./Soeren Stache, dpa

    „Die Liebe an miesen Tagen“, „Mein Leben in deinem“, „Als Großmutter im Regen tanzte“ – die Titel der Bestsellerlisten bestimmen das Gespräch über Literatur. Wo es sich um Belletristik handelt, haben diese Buchaufschriften eines gemein: Hinter ihnen verbirgt sich Prosa, Erzähltes, gefasst weit überwiegend in die Form des Romans. Da kommt es schon einer Sensation gleich, wenn sich in den Spitzengefilden der meistverkauften Bücher mal kein 200-, 300- oder 500-Seiten-Schmöker findet, sondern ein eher schmales Bändchen – von Anfang bis Ende vollgepackt mit Gedichten. 

    Erfolge von Amanda Gorman und Jan Wagner

    Zuletzt war das vor zwei Jahren so bei Amanda Gorman mit „The Hill We Climb“ (wobei die blutjunge US-Amerikanerin ordentlich Rückenwind hatte durch ihren Auftritt bei der Amtseinführung von Präsident Biden) und einige Jahre früher, 2015, bei den preisgekrönten „Regentonnenvariationen“ von Jan Wagner. Selten, dass es die Lyrik so weit nach oben schafft, sehr selten. 

    Warum ist das so? Beim breiten, beim kaufenden Publikum scheint die Verskunst jedenfalls nicht im besten Ruf zu stehen. Irgendwie auch nicht verwunderlich, wenn inzwischen das Attribut „lyrisch“, einem Sachverhalt beigeordnet, einen verächtlichen Beigeschmack bekommen hat – lyrische Ergüsse will sich niemand gerne nachsagen lassen, geschweige denn lesen. Andererseits, wenn uns etwas behagt, bedienen wir uns ganz gerne bei der Lyrik, Das ist ein Gedicht! lautet die Formel, womit uneingeschränkte Wertschätzung mitgeteilt wird. Trotzdem scheint die Lust aufs Lesen von Gedichten davon nicht zu profitieren. 

    Wer sich für Literatur interessiert, der weiß, dass es, wenn in irgendeiner Runde das Gespräch auf Bücher und ihre Autoren kommt, sich erheblich viel leichter über den Neuen (Roman) von Juli Zeh, Arno Geiger oder Dörte Hansen plaudern lässt als über einen ebenfalls frisch erschienenen Gedichtband von Thilo Krause, Nico Bleutge oder Steffen Mensching, um nur mal diese drei Autoren herauszugreifen. Es sei denn, der Lyrik gelingt es auf unvorhergesehenen Wegen, auf dem Wahrnehmungsradar eines größeren Publikums aufzutauchen. Wie es 2016/17 mit Eugen Gomringer und seinen „Avenidas“ der Fall war, jenem Gedicht, das auf einmal für sexistisch gehalten wurde und von einer Berliner Hochschulwand, auf der es in großen Lettern zu lesen war, entfernt wurde, was für beträchtliches Aufsehen sorgte. 

    Wirbel um Egen Gomringer und Judith Zander

    Aber wer kennt, abgesehen von „Avenidas“, mehr von Eugen Gomringer, wer weiß aus dem Stegreif die Namen von fünf deutschsprachige Lyrikern oder Lyrikerinnen unserer Tage zu nennen, wer kann von dem einen, der anderen gar einen Vers hersagen? Es ist schon so: Die Lyrik hat, sehr im Gegensatz zum Roman, ein Problem mit ihrer Sichtbarkeit. 

    Am „Material“ liegt es nicht. Gedichte, alte, neuere, jüngste, sind genügend im Umlauf. Selbst Lyrikliebhaber können kaum glauben, dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels für das zuletzt ausgewertete Jahr 2021 die stolze Zahl von 2450 gedruckten Lyrik-Neuerscheinungen listet – Spitzenwert einer schon in den Jahren zuvor kontinuierlich steigenden Tendenz. Schaut man freilich auf den Anteil am Umsatz, den der Buchhandel mit Lyrik erzielt, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Im selben Referenzjahr 2021 waren es schnöde 1,2 Prozent (die Gattung Dramatik ist da sogar mit eingerechnet) – während die erzählende Literatur auf über 51 Prozent kam, die Krimisparte noch nicht mal mitgezählt. 

    Ernüchternde Zahlen. Dennoch gibt es, wo mit Literatur gehandelt wird, immer auch Lyrik zu kaufen. Wer sich umschaut, etwa in den Buchhandlungen einer 300.000-Einwohner-Großstadt, wird allerdings feststellen: Man muss nach ihr suchen, von selbst springt sie einem nicht ins Gesicht. Der Handel hat die Lyrik in die schattigeren Gegenden seiner Verkaufsräume verbannt, in die Ecke oder in die untere Regal-Etage, wohin man sich bücken muss; während auf den Präsentiertischen, die der Kundschaft in den Weg gestellt sind, die gerade angesagten Romane sich appetitlich abgreifbar stapeln. Die Mieten in den guten Innenstadtlagen müssen nun mal erwirtschaftet werden, und die Lyrik taugt halt nicht zum Verkaufsschlager. 

    Gedichte zu lesen, ist eine andere Tätigkeit als das Lesen von Romanen. In der breiten Leserschaft kommt die Lyrik nicht los vom Klischee, spröde und schwierig zu sein. Zu verkopft, zu zugeknöpft, zu wenig Sog, der einen mit Haut und Haar in fremde Welten eintauchen lässt. 

    Kostprobe gefällig? 

    „ … vermessene sind wir zu nennen und schwänzer lichtkeimer an und für sich kultur follower von spuren strukturen in einem acte de volonté …“

    Ein Ausschnitt aus „grundlegende“, einem Gedicht der Autorin Judith Zander, die in diesem Jahr den Peter-Huchel-Preis erhält, hierzulande eine der renommiertesten Auszeichnungen für Lyrik. Und doch hat sich gerade an dem hier zitierten Gedicht jüngst ein uncharmantes Gestöber in den sozialen Medien erhoben. Mit dem Tenor, was Zander da produziere, sei unverständliches Zeug, geradezu lachhaft, dass hierfür Preisgeld verschüttet werde. Leser und Lyrik – am Beispiel von Judith Zander ist zu sehen, dass da manchmal Welten aufeinanderprallen.

    Was ist das überhaupt, ein Gedicht?

    Unbestreitbar läuft so etwas wie ein Graben durch das weite Feld der Poesie, genauer: durch die Wahrnehmung dessen, was als Verskunst gilt. Muss ein Gedicht sich reimen, müssen seine Zeilen unmittelbar dem Verstehen zugänglich sein? Oder darf es sich verschlossen geben, ja muss es dies sogar, um seinen Stellenwert als eben nicht x-beliebige Sprachäußerung zu markieren? „Beides ist in der Lyrik möglich“, sagt Dirk von Petersdorff. Der Mann weiß, wovon er spricht, er schreibt selber Gedichte und publiziert bei renommierten Verlagen, beschäftigt sich auch als Wissenschaftler mit Lyrik. Er kennt die Debatten, in denen immer wieder mal um Sinn und Zweck des Schreibens von Gedichten gestritten wird.

    Dichter und Gedichte-Kenner: Dirk von Petersdorff.
    Dichter und Gedichte-Kenner: Dirk von Petersdorff. Foto: Anne Günther, FSU

    Dirk von Petersdorff weiß, dass die „E-Lyrik“, die „ernste Lyrik“, wie er sie nennt, und deren Anhänger zu einem großen Teil den Diskurs bestimmen, was als Lyrik von Rang zu gelten habe: Nämlich Verskunst, die einen anspruchsvollen, auch gerne avantgardistisch-experimentellen Umgang mit der Sprache pflegt, ein Schreiben, das letztlich mehr auf den Kopf zielt als aufs Gemüt. Und damit so ganz anders auftritt als Gedichte, die, dem Gegensatz von „E“ und „U“ gemäß, auf der anderen Seite zu verorten wären: Eine „unterhaltende“ Dichtung, die nach Ansicht Dirk von Petersdorffs in heutiger Zeit vielfach im Bereich der Popkultur zu finden ist, in ihren Liedern und Lyrics.

    Schwierige Gedichte hat es immer schon gegeben

    Doch was ist mit der „ernsten“ Lyrik? Sind wir als nicht spezialisierte Leser gar nicht hinreichend trainiert, um deren Reize überhaupt wahrnehmen zu können? Zunächst mal: Schwierige Gedichte gab es zu allen Zeiten. Goethe hat Dunkles hinterlassen, die Romantiker auch, Hölderlin ohnehin. Ist es vielleicht unseren Bildungsinstitutionen anzulasten, dass sie einen jungen Menschen ohne hinreichendes Lyrik-Wissen in die Welt hinaus entlassen? Wohl kaum. Da war doch vor ein paar Jahren die Sache mit der Abiturientin, die sich twitternd beklagte, von den Dingen des Lebens wie Steuern, Miete, Versicherungen keinen blassen Schimmer zu haben, stattdessen nun fähig sei, eine Gedichtanalyse zu verfertigen. An der Schule kann es also nicht liegen. In bayerischen Gymnasien beispielsweise sieht der Lehrplan für alle Jahrgangsstufen die Beschäftigung mit Gedichten vor, und keineswegs nur von Klassikern und Romantikern. Unter den Vorschlägen für den Unterricht sind auch Autoren der Moderne mit ihren so ganz anderen Sprachkonzepten. 

    Wenn man also danach fragt, wie denn die Lyrik überhaupt in ein in jungen Jahren entstehendes Bewusstsein von Literatur gelangt, dürfte schwerer als etwaige Schulversäumnisse ins Gewicht fallen, dass Heranwachsende in ihrer Familie heute nicht mehr in dem Maße mit Dichtung in Kontakt kommen, wie das in früheren, vielleicht noch gar nicht so lange zurückliegenden Zeiten der Fall war. Fachlehrer mit langer Erfahrung wie P. Emmanuel Andres, der Deutsch am Gymnasium bei St. Stephan in Augsburg unterrichtet, glaubt hier einen der Gründe für die nachlassende Kenntnis von Lyrik zu erkennen. Dem Nützlichkeitsdenken, das heute in der Gesellschaft vorherrscht, muss die Auseinandersetzung mit Lyrik als ineffizient erscheinen, als Spielerei mit luftigen Wortgespinsten – während das Schmökern von Romanen wenigstens den Vorteil hat, zuverlässig für Entspannung vom kräftezehrenden Alltag zu sorgen. Selbst in Familien, die als bildungsnah gelten, gehören Gedichtbände von Goethe, Rilke & Co. oder auch Lyrik-Anthologien nicht mehr zum Standard der Haushaltsausstattung. 

    Dirk von Pertersdorff und der Klassiker "Der ewige Brunnen", neu herausgegeben

    Die klassisch-frühe Begegnung mit Gedichten schwindet, die Dichtung selbst bleibt bestehen. Wen es als Leser zur Lyrik zieht, wird die auch finden, egal, in welcher Spielart: die Poesie von gestern ebenso wie die brandaktuelle, die kinderleichte wie die anspruchsvolle. Wie die Zahl der Neuerscheinungen belegt, herrscht kein Mangel an Autorinnen und Autoren. Was dann doch ein wenig verwundert, weil es sich nur von der Lyrik in den aller seltensten Fällen leben lassen dürfte. Auf ein paar hundert verkaufte Gedichtbändchen lässt sich keine tragfähige Existenz gründen. Aber die Dichter schreiben auch nicht ausschließlich Gedichte, sie sind in aller Regel literarisch breiter aufgestellt, haben auch in Prosa und Essay etwas mitzuteilen, halten Lesungen ab und Vorträge – oder bestreiten ihren überwiegenden Lebensunterhalt gleich mit einem anderen Beruf. Der Arzt und Autor Gottfried Benn war geradezu modellhaft dafür. 

    Damit aber Lyrik und Publikum auf breiter Basis zusammenfinden in heutiger Zeit, wo die Begegnung mit Gedichten nicht mehr selbstverständlich ist, dafür „braucht es einen Türöffner“. Dirk von Petersdorff jedenfalls verspricht sich viel von einem solchen, der auf der einen Seite möglichst niederschwellig ansetzt, andererseits den schon Geübteren ebenfalls etwas zu bieten hat und somit möglichst vielen, die den „Türöffner“ in die Hand nehmen, Vergnügen schafft. Ein Buch wie „Der ewige Brunnen“, 1955 erstmals vorgelegt von Ludwig Reiners und seither in zig Auflagen erschienen, eine Schatztruhe voll mit Gedichten von den Anfängen der deutschen Sprache bis in die Jetztzeit, nicht chronologisch geordnet, sondern nach Themen gegliedert. 

    Wenn auch Udo Lindenberg und Tocotronic in die Gedichtesammlung kommen

    Dirk von Petersdorff hat die Sammelarbeit des 1957 gestorbenen, aus heutiger Sicht politisch nicht unumstrittenen Reiners neu gesichtet und, wo nötig, entstaubt, die Unterteilung der Gedichte nach Themen jedoch beibehalten. „Kindheit“ und „Jugend“, „Höhen und Tiefen der Liebe“, „Vergänglichkeit“, „Glaube und Zweifel“ – sind diese und etliche weitere Themenfelder nicht viel zu verschmockt, und mit entsprechenden Gedichten die Menschen des 21. Jahrhunderts für die Lyrik zu gewinnen? Überhaupt nicht, findet der Herausgeber des neuen „Ewigen Brunnens“. Wie oft sind wir mit unseren Gefühlen stark eingebunden in allgemein menschliche Situationen, ob es Verliebtheit ist, Geburt oder Tod, ob es Zweifel sind an unserer Existenz oder Freude ist im Anblick der Natur. „Gerade in solchen Momenten“, sagt Dirk von Petersdorff, „sind wir empfänglich fürs Gedicht“ – resonanzbereit für besondere sprachliche Formung, die den besonderen Moment zu fassen imstande ist. Schon immer lag darin die Kraft der Dichtung. Und das gilt nicht nur für die Kunst der Dichtergroßmeister. Die Magie, die gelungenen Versen innewohnt, vermag sich schon in einem Kinderreim wie „Heile, heile Segen“ mitzuteilen, wenn er – wer hat es nicht erfahren? – wundersam das Nachlassen eines Schmerzes begleitet. 

    Als vielseitiger Kenner der Lyrik, der sich in Buchform auch schon Gedanken über die Frage „Wie schreibe ich ein Gedicht?“ gemacht hat, sieht Dirk von Petersdorff keine Bedenken, das poetisch Populäre mit dem poetisch Avantgardistischen zusammenzuspannen. Und so finden sich in seiner neuen „Brunnen“- Anthologie neben Gedichten von Schwitters und Celan auch Verse von Friedrich Hollaender und Sven Regener, von Judith Holofernes und Udo Lindenberg. Wie bitte, der Panikrocker im „Ewigen Brunnen“ der Lyrik? „Ich bin in einem Konzert von ihm gewesen“, erzählt Dirk von Petersdorff. „Da haben die Leute zwei Stunden lang die Lieder von Udo Lindenberg mitgesungen. Solch eine Bereitschaft muss ein Autor erst mal erzeugen können.“ 

    Poplyrik neben längst Kanonisiertem, vielleicht ist das die Mischung, eine Gedicht-Blütenlese wieder zu einem „Hausbuch“, zum literarischen Begleiter für die vielgestaltigen Situationen des Lebens zu machen. Schon Goethe war ja vom praktischen Nutzen einer solchen Zusammenstellung überzeugt. Und dass Sprachkunstwerken auch ein Gebrauchswert innewohnt, ist ein Gedanke, den ein anderer großer Gedichteschreiber, Brecht, propagierte. Vielleicht liegt tatsächlich hier ein Schlüssel, um Lyrik wieder mehr hereinzuholen ins Leben: Indem man vor ihr nicht kunstbeflissen erstarrt und sie damit in die Ferne rückt. Sondern sie gebraucht, mit Gedichten lacht, liebt, leidet, den Alltag erträglich macht … 

    Dass Lyrik in all diese Situationen etwas zu sagen hat, ist eine Erfahrung so alt wie die Lyrik selbst. Die sollten wir uns auch weiterhin nicht entgehen lassen.

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