Um die Menschenopfer der Maya drehen sich viele Mythen. Für das berühmte Machtzentrum Chichén Itzá im Süden von Mexiko haben Forschende nun genauer hingeschaut. Anders als bisher vielfach angenommen wurden dort wohl keineswegs vor allem Mädchen und junge Frauen rituell geopfert, wie das Team um Rodrigo Barquera vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) im Fachmagazin Nature berichtet. Zudem deuten enge verwandtschaftliche Bande zwischen Geopferten auf eine Verbindung zum Schöpfungsmythos der Maya hin.
So berühmt wie die Maya-Stadt Chichén Itzá auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán ist kaum eine andere archäologische Stätte Amerikas. In der Zeit nach dem Zusammenbruch des klassischen Maya-Reichs bis vor der Ankunft der spanischen Eroberer hatte sie sich zu einem bevölkerungsreichen und politisch mächtigen Zentrum entwickelt. Zur monumentalen Architektur gehören neben vielen Tempeln und Pyramiden auch mehr als ein Dutzend Ballspielplätze.
Viele geopferte Kinder waren eng miteinander verwandt
Zahlreich vorhanden sind zudem Belege für rituelle Tötungen – sowohl in Form von Überresten der Geopferten als auch von Darstellungen. Die Funde deuten darauf hin, dass Menschenopfer im rituellen Leben von Chichén Itzá von zentraler Bedeutung waren. Rolle und Kontext der Opferungen seien bisher ein Rätsel, hieß es von dem Max-Planck-Institut. Ziele der Rituale waren vermutlich etwa höhere Ernteerträge und Niederschlagsmengen. Ein Großteil der Geopferten waren demnach Kinder oder Jugendliche. Bisher habe man vermutet, dass es sich vor allem um Mädchen und junge Frauen handelte. Neuere Analysen deuteten aber bereits darauf hin, dass viele der älteren Heranwachsenden männlich waren.
Das Team um Barquera analysierte nun die Überreste von 64 rituell bestatteten Kindern aus einer 1967 entdeckten unterirdischen Kammer – wahrscheinlich eine frühere Wasserzisterne, Chultún genannt. Das Chultún wurde demnach mehr als 500 Jahre lang genutzt, vom 7. bis zum 12. Jahrhundert, vor allem während der politischen Blütezeit von Chichén Itzá zwischen 800 und 1000. Alle 64 Kinder waren männlich, wie die Forschenden berichten. In elf Fällen seien je zwei der Jungen eng verwandt gewesen –also insgesamt 22 Heranwachsende. Aus Ernährungsmustern ließ sich ableiten, dass sie wahrscheinlich im selben Familiennetzwerk aufwuchsen –möglicherweise sogar im gleichen Haushalt.
Zwillinge nehmen in Schöpfungsmythen einen besonderen Platz ein
Überraschenderweise haben wir auch zwei eineiige Zwillingspaare identifiziert“, sagte Ko-Autorin Kathrin Nägele. Zusammengenommen deuten die Ergebnisse den Forschenden zufolge darauf hin, dass verwandte männliche Kinder wahrscheinlich paarweise für Rituale im Zusammenhang mit dem Chultún ausgewählt wurden. Zwillinge nähmen in den Schöpfungsmythen und im spirituellen Leben der damaligen Maya einen besonderen Platz ein, hieß es zur Erläuterung. Im sogenannten „Buch des Rates“ (Popol Vuh) der Quiché-Maya seien Zwillingsopfer ein zentrales Thema. Etwa bei der Geschichte der Zwillinge Hun und Vucub Hunahpú, die in die Unterwelt hinabsteigen und von Göttern getötet werden. Zudem werden die Zwillingssöhne von Hun Hunahpú, Hunahpú und Ixbalanqué, als Heldenbrüder verehrt und seien in der klassischen Maya-Kunst allgegenwärtig.
Auswirkungen von Epidemien noch bei heutigen Maya erkennbar
Aus den genetischen Analysen – ergänzt um solche heute lebender Nachfahren –schließt das Forschungsteam auch auf langfristige genetische Auswirkungen von Epidemien der Kolonialzeit auf indigene Bevölkerungsgruppen Mesoamerikas bis heute. Demnach gab es Folgen für das Immunsystem wie etwa eine Selektion für genetische Varianten, die vor einer Salmonellen-Infektion schützen. „Im 16. Jahrhundert verursachten Kriege, Hungersnöte und Epidemien in Mexiko einen Bevölkerungsrückgang von bis zu 90 Prozent“, hieß es von dem Leipziger Institut. Von 10 bis 20 Millionen schwand die Zahl der Bewohner auf nur noch etwa 2 Millionen, unter anderem durch eingeschleppte Infektionskrankheiten wie Pocken, Masern, Mumps, Grippe, Malaria und Typhus. Zu den schwerwiegendsten Epidemien gehörte demnach die Cocoliztli-Epidemie von 1545, die wahrscheinlich durch Salmonellen verursacht wurde. „Die Maya tragen noch heute die genetischen Narben dieser Epidemien aus der Kolonialzeit“, sagte Barquera. (Annett Stein, dpa)