Eine Person mit goldenem Armreif hat ein Kind auf dem Schoß. Die Konstellation, in der einige Skelette in Pompeji gefunden wurden, schienen es den Archäologinnen und Archäologen teils leichtzumachen: Hier hält eine Mutter ihr Kind. Nun zeigt eine Studie, dass solche vermeintlich naheliegenden Deutungen nicht immer zutreffen – und vielleicht sogar mehr über unsere heutigen Vorstellungen von Familie aussagen als über die der Antike.
In ihrer Analyse, die im Fachmagazin Current Biology erschienen ist, werteten die Forscherinnen und Forscher aus Italien und den USA Genmaterial mehrerer Knochenreste aus und deckten genetische Abstammungen der einzelnen Personen sowie Verwandtschaften untereinander auf. Die Ergebnisse sorgten für Überraschungen. „Die wissenschaftlichen Daten, die wir erheben, stimmen nicht immer mit den gängigen Annahmen überein“, sagte David Reich von der Universität Harvard.
So sei die Person mit dem Armreif eben nicht die Mutter des Kindes. Die Genanalyse zeigte: Es handelt sich um einen Mann, der nicht mit dem Kind verwandt war. „Ebenso wurde bei zwei Personen, von denen man dachte, sie seien Schwestern oder Mutter und Tochter, nachgewiesen, dass mindestens eine von beiden Personen genetisch männlich war“, berichtete Reich weiter. „Diese Ergebnisse stellen die traditionellen Vorstellungen von Geschlecht und Familie infrage.“
Moderne Konzepte lassen sich nicht eins zu eins auf antike Kulturen übertragen
Moderne Konzepte lassen sich der Studie zufolge nicht eins zu eins auf antike Kulturen übertragen. Narrative, die auf Grundlage von begrenzten Hinweisen entstanden sind, seien oft unzuverlässig und würden vor allem die Weltanschauung der Forschenden widerspiegeln. „Diese Entdeckungen stellen langjährige Interpretationen infrage, wie die Verknüpfung von Schmuck mit Femininität oder die Interpretation von körperlicher Nähe als Indikator für eine biologische Verwandtschaft“, schreiben die Autorinnen und Autoren.
Sie betonen aber auch, dass sie mit ihrer Arbeit keine neuen Narrative etablieren wollen, die die Lebensumstände der antiken Gesellschaft falsch darstellen. Die Ergebnisse sollten stattdessen „zum Nachdenken über die Vorstellungen und Konstruktionen von Geschlecht und Familie in historischen Gesellschaften sowie im akademischen Diskurs anregen“.
Globale Gesellschaft: In Pompeji lebten auch viele Einwanderer
Für ihre Studie nahmen die Forscherinnen und Forscher Proben von den Überbleibseln mehrerer Opfer des Vesuv-Ausbruchs im Jahr 79. Bei fünf der Proben gelang es, ausreichend mitochondriale DNA für eine Auswertung anzureichern.
Die Analysen des Erbguts gaben den Forschenden auch einen Eindruck davon, wo die ursprünglichen Wurzeln der Pompeianer liegen. Die Autorinnen und Autoren sprechen in dem Zusammenhang von einer Art Globalisierung der Vormoderne. Denn die Bewohnerinnen und Bewohner stammten zu einem großen Teil von Personen ab, die aus dem östlichen Mittelmeerraum eingewandert waren. Auch Hinweise auf verschiedene andere geografische Einflüsse fanden die Forschenden in den Genen.
Dieses heterogene Erbgut würde zu einer großen Vielfalt der Bevölkerung passen, was auch die Rolle Pompejis als Hafenstadt und die Beschreibungen antiker Autoren nahelegen würden, schreiben sie. Mitautorin Alissa Mittnik erklärte: „Die Studie unterstreicht den diversen und kosmopolitischen Charakter der Bevölkerung von Pompeji und spiegelt größere Muster von Mobilität und kulturellem Austausch im Römischen Reich wider.“ (Katharina Köhler, dpa)
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