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"Zonenkinder"-Autorin: Jana Hensel: "Für Ostdeutsche hat die Ära Merkel nicht viel gebracht"

"Zonenkinder"-Autorin

Jana Hensel: "Für Ostdeutsche hat die Ära Merkel nicht viel gebracht"

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    Jana Hensel schreibt über den Umgang mit den Ostdeutschen im vereinten Deutschland.
    Jana Hensel schreibt über den Umgang mit den Ostdeutschen im vereinten Deutschland. Foto: Holger John, Imago Images

    Frau Hensel, vor Kurzem ist der ostdeutsche Kosmonaut Sigmund Jähn gestorben. Im Osten war er ein Held, im Westen sorgte er lange Jahre für Schulterzucken. Es ändert sich gerade ein bisschen, aber warum konnte aus ihm bislang kein gesamtdeutscher Held werden?

    Jana Hensel: Darüber könnten wir ein eigenes Interview führen. Man kann an dieser Figur eine Zäsur erkennen. Inzwischen nehmen junge Menschen an dem Diskurs teil. Junge Menschen greifen selbstbewusst in ihre eigene Geschichte und suchen sich heraus, an wen sie sich erinnern wollen. Sie ordnen sich nicht mehr der westdeutschen Perspektive unter. Da ist was aufgebrochen. Ich bin total überrascht. Das hätte es vor drei Jahren nicht gegeben.

    Ich muss sagen, obwohl ich aus dem Osten komme, dass mir Sigmund Jähn auch viele Jahre egal war. Ich kannte ihn natürlich, aber er bedeutete mir nichts. Komischerweise regte sich aber jetzt etwas in mir bei seinem Tod. Ich fühlte mich plötzlich ostdeutsch. Genauso ging es mir bei dem Film über den Liedermacher Gerhard Gundermann, der als Baggerfahrer Braunkohle in der Lausitz aus der Erde brach. Was hat sich geändert? Ist jetzt einfach die Zeit reif dafür, eine Generation nach der Wende?

    Hensel: Immer mehr junge Menschen, die keine Erinnerungen mehr an die DDR haben, bekennen sich zu ihren ostdeutschen Wurzeln. Das hat ganz viele Gründe. Aber vor allem mit den identitätspolitischen Debatten hat es zu tun. 2015 war nicht nur das Jahr, in dem der Rechtsruck der ostdeutschen Bevölkerung sichtbar wurde. Auch alle westdeutschen Vorurteile wurden in voller Blüte reproduziert. Ich war schockiert, wie stark sich diese Vorurteilskultur in Westdeutschland gehalten hat. Wie sehr sie verletzt hat.

    Frei nach dem Motto, wenn ihr uns schon als irgendwie seltsame Zeitgenossen seht, dann sind wir es auch?

    Hensel: Identitäten werden zugeschrieben. Nach 2015 ist einem selber die ostdeutsche Identität wieder angetragen worden. Diese junge Generation entscheidet sich mehrheitlich: Wenn ihr uns diesen Ball zuspielt, dann nehmen wir ihn auf. Dann spielen wir ihn aber selbstbewusst zurück. Das ist ein total interessanter Prozess, mit dem ich nicht gerechnet habe. Aber es ist eine Folge des Rechtsrucks auf einem anderen Spektrum.

    Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht auf der Festveranstaltung zur Grundsteinlegung der DFB-Akademie.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht auf der Festveranstaltung zur Grundsteinlegung der DFB-Akademie. Foto: Andreas Arnold (dpa)

    Ich dachte eigentlich, dass sich das Land bei der WM 2006 gefunden hatte. Ost, West, Migrationshintergrund oder nicht – das schien keine Rolle mehr zu spielen. Das war offenbar ein Trugschluss.

    Hensel: Je sprechfähiger die Migranten geworden sind, desto sprechfähiger sind wir Ostdeutschen geworden. Da gibt es eine Wechselwirkung. Da lernt man voneinander.

    Das ist ein interessanter Zusammenhang und scheint im ersten Moment sehr weit hergeholt, dass Ostdeutsche ein ähnliches Schicksal teilen wie Zuwanderer. Denn die Ostdeutschen sind ja Deutsche, die seit Jahrhunderten hier leben. Was haben Ostdeutsche und Menschen gemeinsam, die ursprünglich aus Italien oder der Türkei nach Deutschland gekommen sind?

    Hensel: Es sind unterschiedliche Herkunftsgeschichten und Migrationsprozesse. Die Ostdeutschen mussten nicht das Land verlassen. Aber alles um sie herum hat sich verändert. Wir kommen nicht weiter, wenn wir fragen, sind sie jetzt gleich oder unterschiedlich. Das ist eine Sackgasse. Wichtig ist: Wir stehen vor gleichen Problemen und Aufgaben. Beide Gruppen werden mit einer Vorurteilskultur konfrontiert. Die dazu führt, dass wir in der gesamtdeutschen Elite beschämend unterrepräsentiert sind. Man sagt, ihr passt nicht rein, darum kommt ihr nicht hoch. Zwei unterschiedliche Gruppen sind mit den gleichen Phänomenen konfrontiert.

    Sie haben für Aufsehen gesorgt, als Sie eine Quote für Ostdeutsche gefordert haben. Ehrlich gesagt, habe ich, als ich das hörte, gedacht, was für ein Quatsch. Es hat mich fast ein wenig beleidigt. Ich bin meinen Weg gegangen. Sie auch. Wir beide brauchen die Quote doch nicht.

    Hensel: Das ist richtig. Für eine Quote zu streiten bedeutet ja nicht, jeder individuellen Biografie ein Erfolgspotenzial abzusprechen. Diese Quotendiskussion kennen wir aus dem Feminismus. Frauen, die gegen Frauen sind, weil sie keine Quoten-Frauen sein wollen. Ich kann auch jeden Ostdeutschen verstehen, der Angst hat, Quoten-Ossi zu sein. Die Zahlen sind schockierend. Die Ostdeutschen sind unterrepräsentiert in Gesamtdeutschland. Aber sie sind auch unterrepräsentiert in der politischen Debatte. Diese Debatte will aber niemand führen.

    Wir reden doch gerade darüber…

    Hensel: Es ist bisher eine Debatte im Feuilleton geblieben. In den fünf neuen Ländern stellen die Ostdeutschen immer noch 80 Prozent der Bevölkerung – und sind dennoch beschämend unterrepräsentiert an der Spitze von Unternehmen, Universitäten und der Verwaltung. Wenn wir eine Quote für Ostdeutschland diskutieren, muss man schauen, ob es juristisch oder verwaltungstechnisch möglich ist. Hier geht es aber auch um eine Sensibilisierung dieses Themas. Weil wir sehen, dass sich in den letzten 30 Jahren diesbezüglich nichts getan hat.

    Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, der CDU-Abgeordnete Christian Hirte aus Thüringen, fürchtet eine Stigmatisierung. Es stellen sich auch Fragen nach der Machbarkeit. Was machen wir für Westdeutsche, die seit 20 Jahren in Ostdeutschland leben?

    Hensel: Ich werde mich mit Juristen in Verbindung setzen und nachfragen, wie sich so was ausgestalten lässt. Aber worüber reden wir? Wenn wir es mit der Frauenquote vergleichen – da reden wir über Quoten von 30 Prozent. Kein Westdeutscher muss Angst haben, dass er nicht mehr an die Futtertöpfe kommt. Regionen müssen es spüren, dass eigene Leute es schaffen können. An deren Geschichte werden sich dann andere Menschen aufrichten. Wenn ich nach Leipzig komme – warum sind meine Lesungen so voll? Die Leute sind stolz, weil es jemand geschafft hat. Gesellschaften müssen einen Aufstiegsglauben haben.

    Ich glaube, dass die Quote in den alten Ländern für Kopfschütteln sorgt und kaum durchsetzbar sein wird. Dort ist doch das Bild das folgende: Warum jammert ihr immer noch? Wir gaben euch schließlich Milliarden und Abermilliarden. Ihr hattet Joachim Gauck als Präsident und Angela Merkel als Kanzlerin ist fast so lange an der Macht wie Helmut Kohl. Jetzt habt euch mal nicht so. Sie schätzen Merkel sehr, aber als Ostdeutsche wollte sie sich nie verstanden wissen.

    Hensel: Für die Ostdeutschen hat Merkels Amtszeit nicht viel gebracht. Meine Faszination für sie war immer eine gebrochene. Ich konnte mich an ihr aufrichten. Für erfolgreiche Ossis konnte sie eine Spiegelfigur sein. Aber sie hat nicht den Ossi per se mitnehmen können. Ihre Chancen hat sie da viel zu wenig genutzt. Und noch einmal zur westdeutschen Perspektive: Gauck und Merkel sind absolute Ausnahmeerscheinungen.

    Frau Hensel, zur Wahrheit über das Reden über den Osten gehört, dass wir es vor allem tun, weil die AfD in den neuen Ländern große Wahlerfolge feiert. Das rüttelt schwer an der Nation. Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von einer Emanzipationsbewegung des Ostens. Eigentlich ist der Begriff der Emanzipation positiv besetzt, die

    Hensel: Das ist eine rechte Emanzipationsbewegung. Man muss mit dieser Formulierung sehr aufpassen. Was ich aber sehe: Der Rechtsruck hat Verkrustungen und Schichten aufgebrochen, die durch das demokratische politische Spektrum nie hätten aufgebrochen werden können. Der Rechtsruck hat den Osten politisch sichtbar gemacht. Das ist so keiner anderen politischen Kraft gelungen. Die Bewegung hat bei all dem Negativen, wofür sie steht, was sie artikuliert, für alles, was sie zu etablieren versucht, auch positive Effekte. Warum wählen die Leute AfD – aus der Sicht derer, die sie wählen, ist die AfD eine Erfolgsgeschichte.

    Der Aufstieg der AfD stellt die etablierten Parteien aber auch die Journalisten vor eine gewisse Ratlosigkeit. Trotz aller Skandale, der Stümperei, der fehlenden Antworten auf konkrete Probleme, rücken die Wähler nicht von der AfD ab. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Partei nicht einfach verschwindet. Wird sie im Osten vielleicht sogar noch stärker als sie ohnehin ist?

    Hensel: Wir sehen in den ostdeutschen Ländern eine extreme Lernkurve. Sobald man sich aus Berlin herausbewegt – wie beispielsweise in Brandenburg vor der Landtagswahl. Allen politischen Parteien gelingt es, in den politischen Diskurs mit der AfD zu treten. Das hat auch damit zu tun, dass sich die AfD-Politiker in so gemischten Podien anders verhalten als in ihren Biotopen. In ihren Biotopen gelten eigene Gesetze. Herr Kalbitz, der Spitzenkandidat der AfD

    Ich will mit Ihnen noch einmal auf die persönliche Ebene gehen. Sie beackern die Ost-West-Spaltung seit 20 Jahren. Wenn Sie Ihre Bücher bei Lesungen vorstellen, was unterscheidet einen Abend in Augsburg von einem in Schwerin?

    Hensel: Ich habe so gut wie keine Lesungen in Westdeutschland. Ich bekomme zwar viele Anfragen aus ganz Deutschland, aber ich arbeite nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als Journalistin. Ich habe ein Kind. Und offen gestanden zieht es mich nicht in die alten Länder. Wenn ich mir die Zeit nehme für eine Lesung, dann fahre ich lieber nach Salzwedel.

    Passiert es Ihnen immer noch, dass Ihnen ungefragt Ossi-Witze erzählt werden? Als ich vor einigen Jahren in Frankfurt am Main anfing, bekam ich eine Art Brotbüchse in Bananenform, damit die seltenen Südfrüchte in der Tasche nicht zerquetscht werden. Ich dachte mir immer, so richtig witzig ist das nicht.

    Hensel: Schrecklich. Mir geht das tierisch auf die Nerven mittlerweile. Es sind seit 30 Jahren die gleichen Witze. Ich finde sie nicht lustig. Es geht sogar so weit, dass mein Freundeskreis mittlerweile wieder viel stärker ostdeutsch ist. Letztes Jahr war ich im Urlaub mit vielen Westdeutschen und ich musste mir die ganze Zeit dumme Sprüche anhören. Ich will, dass sie meiner Geschichte offen und respektvoll begegnen.

    Wenn wir eine Zwischenbilanz über die vergangenen 30 Jahre und die neue Diskussion über die Osten ziehen, was müsste da drunter stehen? Geht es um Anerkennung? Eine Beobachtung ist ja, dass sich die alten Länder bei der Kinderbetreuung, der Berufstätigkeit von Frauen und zum Beispiel der Berufsausbildung mit Abitur teilweise dem Osten annähern. In Bayern würde das nur so keiner zugeben.

    Hensel: Es geht um Anerkennung. Es geht um ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe. Es geht für den Westen darum, die Fakten anzunehmen. Nämlich, dass Ostdeutschland anders ist und bleiben wird. Das sollte eine größere Akzeptanz finden. Die 90er Jahre haben den Osten massiv verändert. Es gab den ökonomischen Kollaps, den kompletten Austausch der Eliten und die Abwanderung von Millionen. Man kann auch in den Unterschieden ein geeintes Land sein. Wir müssen uns vom Diktum verabschieden, dass wir 30 Jahre nach Wende und Wiedervereinigung gleich sein müssten.

    Unser Special "30 Jahre Mauerfall": Alle Artikel finden Sie hier in der Übersicht.

    Hinweis der Redaktion: Dieser Text war Teil unseres Specials zum 30. Jahrestag des Mauerfalls im Jahr 2019.

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