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Sprache: Wie wir unseren Weg in der Gender-Debatte gefunden haben

Sprache

Wie wir unseren Weg in der Gender-Debatte gefunden haben

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    Künftig werden wir in unseren Texten auf geschlechtergerechte Sprache achten.
    Künftig werden wir in unseren Texten auf geschlechtergerechte Sprache achten. Foto: AZ/Canva

    Liebe Leserinnen, liebe Leser, diese Anrede ist für Sie nicht neu. Wir verwenden sie bereits seit einigen Jahren in unseren Texten, weil wir Sie direkt ansprechen möchten. Wie wäre das bei „Liebe Leser“? Würden Sie sich, liebe Leserin, auch davon angesprochen fühlen? Oder würden Sie, lieber Leser, dann daran denken, dass wir auch Leserinnen haben? Womit wir schon beim Thema sind. Die Doppelnennung ist eine Form von geschlechtergerechter Sprache – davon wird es ab heute mehr in unseren Texten geben. Denn ab heute wird die Redaktion gendern – also darauf achten, dass mehr Geschlechter als nur das männliche in der Sprache sichtbar werden.

    Bisher schrieben wir einfach das generische Maskulinum

    Bisher waren Doppelnennungen eine Ausnahme in unserer Zeitung und auch auf unserer Homepage. Für einen Personenkreis, der aus Männern und Frauen besteht, verwendeten wir in der Regel das sogenannte generische Maskulinum. Für uns Medienmenschen ist diese grammatikalische Form, die zwar männlich klingt, aber für alle Geschlechter stehen soll, praktisch, weil platzsparend. „Lehrer sollen sich impfen lassen“, „Politiker denken über Lockerungen nach“ – das passt in jede Überschrift. Aber auch da: An wen denken Sie, wenn Sie solche Zeilen lesen? Und ist es fair, wenn von zehn Erzieherinnen und einem Erzieher die Rede ist, dass die Gruppe grammatisch betrachtet männlich wird? Dass wir von Erziehern schrieben, wenn doch der Großteil dieser Berufsgruppe weiblich ist?

    Studien haben erwiesen, dass das generische Maskulinum Bilder in den Köpfen erzeugt, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Wenn von Polizisten die Rede ist, haben die meisten Menschen nun mal Männer in Uniform im Kopf, keine Frauen. Vor 100 Jahren, als das öffentliche Leben noch maskulin geprägt war, mag das Bild, das diese generische Form erzeugt hat, gestimmt haben. Nicht aber in Zeiten, in denen Frauen in nahezu allen Berufen tätig sind und auch Führungspositionen einnehmen. Das generische Maskulinum erscheint zunehmend ungerecht und ungenau – und wird deswegen auch zunehmend hinterfragt. Auch von uns Medienmenschen, die wir uns der Bedeutung von Sprache bewusst sind, die wir tagtäglich mit einer sich stetig verändernden Sprache arbeiten. Manche Wörter sterben aus, neue kommen hinzu. Wir sprechen heute nicht mehr wie vor 100 oder vor 50 Jahren, wir schreiben auch nicht mehr so.

    Kinder trauen sich mehr zu, wenn sie männliche und weibliche Berufsbezeichnungen lesen

    Sprache verändert sich, weil sich die Gesellschaft verändert. Sie spiegelt die Realität wider und sie kann diese auch prägen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität Berlin haben in einer Studie nachgewiesen, dass Kinder, die eine männliche und weibliche Berufsbezeichnung lesen, typisch männliche Berufe als erreichbarer einschätzen und sich auch eher zutrauen, diese später zu ergreifen. Sprache kann also auch ein Schlüssel für die Zukunft sein.

    30. März 2021: Erstes Treffen des redaktionsinternen Arbeitskreises „Gendern“, für den neun Kolleginnen und Kollegen ausgewählt wurden, die aus unter schiedlichen Redaktionen und Altersgruppen stammen. Arbeitsauftrag der Chefredaktion: Wie soll die Redaktion mit dem Gendern künftig verfahren? Die Diskussion geht sofort los, es geht um Fragen wie: Wollen wir ein Gendersternchen? Brauchen wir ein Gendersternchen? Aus Platzgründen und wegen der Diversität wäre das die einfachste Lösung. Oder stört das den Lesefluss? Kämen unsere Leserinnen und Leser damit klar? Und was ist mit der nächsten Generation der Leserinnen und Leser? Fühlt sie sich vom generischen Maskulinum angesprochen oder ausgeschlossen?

    Was wäre denn so schlimm daran, wenn wir alle Menschen explizit erwähnen?

    Aus Erfahrung wissen einige aus der Gruppe, dass die Umstellung nicht so groß ist: Zunächst erscheinen gegenderte Formen ungewohnt, aber nach kurzer Zeit fallen sie nicht mehr groß auf. Wir versetzen uns in die Lage der unterschiedlichen Zielgruppen, wir ringen mit den verschiedenen Positionen. Wir lesen Beiträge, die für und gegen das Gendern sprechen, Texte von Frauen, die eine geschlechtergerechte Sprache fordern, und von Frauen, die sich dagegen aussprechen, weil sie nicht wollen, dass das biologische weibliche Geschlecht so sehr in den Vordergrund gerückt wird.

    Im Arbeitskreis fühlen sich alle durch das generische Maskulinum angesprochen, dennoch können wir verstehen, dass es manchen Menschen anders geht und sie ebenfalls sprachlich sichtbar werden möchten. Was wäre denn so schlimm daran, wenn wir sie explizit erwähnen? Bei Leserinnen und Leser regt sich schließlich auch niemand auf.

    Wie gendert die Redaktion? Wir suchen einen Kompromiss

    Dass Handlungsbedarf besteht und wir eine Linie brauchen, sehen wir im Redaktionsalltag und auch im täglichen Sprachgebrauch. Immer häufiger tauchen in Pressemitteilungen Gendersternchen und Co auf, einige Interviewpartner und Gesprächspartnerinnen sprechen mit Gender-Pause, Vereine und Institutionen schicken uns Texte mit Doppelnennungen oder geschlechterneutralen Synonymen: Fachleute statt Experten heißt es da. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zu gendern – und immer mehr Menschen verwenden diese auch in ihrer Kommunikation.

    Gleichsam wissen wir aus Zuschriften und durch Kommentare auf unseren Internetseiten, dass einige Menschen geschlechtergerechte Sprache und vor allem Genderzeichen sehr kritisch sehen. Wir suchen also nach einem Kompromiss, mit dem alle Leserinnen und Leser bei ihrer täglichen Lektüre leben können. Wer sich mit den Genderdebatten befasst hat, weiß, dass es fast einer Quadratur des Kreises entspricht, es bei diesem Thema allen recht zu machen – wir gehen es trotzdem an.

    Das Gendern stößt auch auf großen Widerspruch

    Gendergerechte Sprache stößt aktuell auch auf großen Widerspruch und löst mitunter emotional geführte Debatten aus. Kritikerinnen und Kritiker führen an: Sonderzeichen wie das Gendersternchen würden den Lesefluss stören und die deutsche Sprache verhunzen. Andere empfinden eine geschlechtergerechte Sprache als unwichtig oder gar als Bevormundung. Andere wiederum tun sich mit einer Umstellung schwer, weil Sprache nicht allen leichtfällt. Wer sich diese mühsam in Wort und Schrift angeeignet hat, sorgt sich möglicherweise, durch das Gendern nicht mehr „mitzukommen“ oder gar ausgeschlossen zu sein.

    Merz ist dagegen, Baerbock gendert bereits

    Und die Politik? Da gibt es in Sachen gendergerechte Sprache zwei Lager. Friedrich Merz (CDU) etwa sprach sich jüngst für ein Genderverbot staatlicher Institutionen aus, Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hingegen gendert mit großer Selbstverständlichkeit.

    Das Problem, dass sich viele Gruppen im generischen Maskulinum nicht wiederfinden, ist nicht neu. In den 1970er Jahren forderten Feministinnen eine Sprache, in der Frauen sichtbarer sind, und rüttelten zum ersten Mal am generischen Maskulinum – mit mäßigem Erfolg. Noch immer sprechen sich 71 Prozent der deutschen Bevölkerung für das generische Maskulinum aus, wie kürzlich eine Allensbach-Umfrage ergab.

    Vor allem junge Menschen fordern mehr Toleranz und verbale Vielfalt

    Doch die Mehrheit scheint langsam zu bröckeln – vor allem junge Menschen wollen die sprachliche Ungleichbehandlung nicht länger hinnehmen, fordern mehr verbale Vielfalt und Toleranz, in der Hoffnung, dass sich die Sprache auch auf die Gesellschaft auswirkt. Dass es dann mehr Gleichberechtigung unter den Geschlechtern gibt. Sie verwenden daher ganz selbstverständlich männliche wie weibliche Formen – Freundinnen und Freunde etwa.

    Immer häufiger werden auch in Alltagstexten Genderzeichen benutzt: Freund:innen, Lehrer*innen, ... . Diese Zeichen weisen auf die Existenz eines dritten Geschlechts hin – sie bezeichnen Menschen, die sich nicht als weiblich oder männlich sehen. Genderzeichen werden als Pause gesprochen, wie die vor der letzten Silbe des Wortes „Spiegelei“. Sprachwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen nennen diese kleine Pause Glottisschlag. Umgangssprachlich wird sie auch Genderpause genannt.

    Der Rat der deutschen Rechtschreibung lehnt Gendersternchen und Co ab

    Seit die freie Geschlechtswahl 2018 im Grundgesetz verankert wurde und es ein Recht auf ein drittes Geschlecht gibt, macht sich das auch in der Sprache bemerkbar. Stellen müssen nun für männliche, weibliche und diverse Menschen ausgeschrieben werden. Anders als bei diesen Regeln für Stellenausschreibungen gibt es für das Gendern im täglichen Sprachgebrauch keine gesetzliche Grundlage und keine Pflicht.

    Der Rat der deutschen Rechtschreibung hat sich gegen die Einführung von Genderzeichen ausgesprochen, weil Sonderzeichen in Wörtern nicht rechtschreibkonform seien. Auch der Duden lehnt diese ab, führt aber im Regelwerk der deutschen Rechtschreibung nun beispielsweise neben dem Arzt auch die Ärztin als eigenen Eintrag auf. Dabei geht es beim Gendern nicht nur um eine neue, andere Schreibweise – Gendern ist auch eine Haltung.

    Wir haben ein Mini-Experiment gewagt

    10. Mai 2021 – zweites Treffen des Arbeitskreises „Gendern“: Einige Teilnehmerinnen haben in der Zwischenzeit in Texten Doppelnennungen ausprobiert und neutrale Bezeichnungen für Berufsgruppen verwendet, Lehrkräfte statt Lehrer etwa, Kita-Personal statt Erzieher. Zwei Erfahrungswerte aus diesem Mini-Experiment: Die Umstellung beim Formulieren ist nicht sonderlich groß, fiel im Kollegium sowie bei der Leserschaft kaum auf, die Texte werden dadurch aber genauer und variantenreicher – und das Platzproblem war kleiner als gedacht. Wir diskutieren, ob jede Person in der Redaktion gendern soll, wie sie möchte – einige andere Verlage handhaben das so, – sprechen uns dann aber für einen Leitfaden aus, an dem sich die Kolleginnen und Kollegen orientieren können. Schließlich geht es hier nicht um die Haltung der Einzelnen, sondern um die unseres Hauses. Aber wie könnten die Details aussehen?

    Wir tauschen uns dazu auch immer wieder mit den Kolleginnen und Kollegen der Main-Post in Würzburg aus, die ebenfalls an einem Konzept arbeiten, wie sie gendergerechte Sprache im Redaktionsalltag etablieren können. In Videokonferenzen diskutiert das Team über die Umsetzung. Auch dort ist der Trend wie in unserem Arbeitskreis und der Gesellschaft: je jünger, desto aufgeschlossener für die Notwendigkeit einer gendergerechten Sprache.

    In den sozialen Medien gibt es emotionale Debatten zum Thema Gendern

    Viele Firmen, Behörden, Institutionen und Verlage befassen sich inzwischen mit dem Thema Gendern, vor allem jene, die eine junge Zielgruppe ansprechen möchten. In manchen Büros wurde ohne großes Aufheben ein Sternchen oder Doppelpunkt eingeführt. Immer häufiger tauchen Genderzeichen oder Doppelnennungen in Newslettern und auf Homepages, in Werbungen oder auch im Supermarktregal auf: Plötzlich steht da auf der Glasflasche der beliebten Alpen-Limonade „Almdudler*in“ oder auf dem Etikett der Nussmischung „Student*innenfutter“ – auch hier: manchen Menschen schmeckt das nicht. Als der Autobauer Audi einen verbindlichen Gender-Leitfaden für die Firmenkommunikation einführte, um die geschlechtliche Vielfalt sichtbar zu machen, klagte ein VW-Mitarbeiter dagegen, weil er sich gegängelt fühlte. Auch hier: hitzige Debatte in den sozialen Medien.

    Sprache ist nicht nur ein gesellschaftliches Gut

    Warum aber sorgen kleine Veränderungen in der Sprache mitunter für so viel Aufregung? Fachleute führen diese Emotionalität auch darauf zurück, dass Sprache nicht nur ein gesellschaftliches Gut ist, sondern auch eine persönliche Komponente hat. Damit drücken wir unsere Gedanken, unsere Meinung, unser Innerstes aus. Da möchte sich niemand reinreden lassen. Daher wird das Gendern auch individuell bewertet: Manchen Menschen erscheint es als größere sprachliche Freiheit, anderen als verbale Einengung – und einem Teil ist es auch schlichtweg egal.

    20. Mai 2021 – drittes Treffen des Arbeitskreises „Gender“: Die Gruppe ist sich einig, dass in redaktionellen Texten kein Gender-Sonderzeichen auftauchen soll, weil dies nicht den Regeln des Rates für deutsche Rechtschreibung entspricht und möglicherweise einen Teil der Leserschaft irritieren könnte. Gendern ist auch ohne Sternchen und Doppelpunkt möglich. Wie aber wird verfahren, wenn Interviewte gendern? Streichen? An den Redaktionsstandard anpassen? Im Text stehen lassen? Ginge dadurch nicht eine wichtige Information zur Haltung des Gesprächspartners oder Gesprächspartnerin verloren?

    Interviewte dürfen gendern, müssen aber nicht

    Aus journalistischen Gründen entscheidet unser Haus sich dafür, anderen Menschen das Gendern mit Sonderzeichen zuzustehen, auch wenn die Darstellung nicht der deutschen Rechtschreibung entspricht, und die Information an unsere Leserinnen und Leser weiterzugeben, damit diese sich eine Meinung bilden können. Wir verbieten nicht zu gendern und zwingen auch niemanden dazu. Da wir befürworten, dass sich Sprache verändert und wir Teil einer toleranten und offenen Gesellschaft sind, ist es uns wichtig, auch in unseren Texten diese Vielfalt genauer abzubilden und mehr Menschen sichtbar zu machen. Deshalb gendern wir ab heute – wie genau, das lesen Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, hier.

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