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Sexualität: Obacht, die Frauen kommen: 150 Jahre Vibrator

Sexualität

Obacht, die Frauen kommen: 150 Jahre Vibrator

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    Der Vibrator wird 150 Jahre alt. Hier zu sehen: Ein Exemplar aus den 1930er Jahren.
    Der Vibrator wird 150 Jahre alt. Hier zu sehen: Ein Exemplar aus den 1930er Jahren. Foto: Fiona Hanson, dpa

    "Diese Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit", wird, wie inzwischen so oft, zu Beginn des Films verkündet. Um in diesem Fall dann vermeintlich launig eine Zeile hinterherzuschieben: "Echt jetzt!"

    Aber man mag es ja tatsächlich kaum glauben, was Tanya Wexlers „In guten Händen“ da im Jahr 2011 erzählte. Wie nämlich Frauen einst in Serie als Hysterikerinnen behandelt wurden, die doch eigentlich nur an einem litten: Dass ihre Lust unbefriedigt blieb. Also kümmerten sich die Herren Ärzte zunächst in Handarbeit um die Patientinnen und verschafften ihnen einen Orgasmus. Bis ein Doktor ein dampfgetriebenes Gerät erfand, das die Arbeit zuverlässig übernahm. Ein Riesenerfolg!

    Tatsächlich hieß der Erfinder George Taylor, es geschah in den USA und im Jahr 1869 – und was jener damals „Manipulator“ taufte, feiert somit jetzt als Vibrator 150. Geburtstag. Seinen Siegeszug aber trat er, wie im Film erzählt, vom viktorianischen England aus an, wo der Arzt Joseph Mortimer Granville eine elektromagnetische Version erdachte, den „Percuteur“, der deutlich handlicher war. Aber ist das heute noch mehr als eine bizarre, historische Anekdote?

    Nicht ganz. Denn auch heute müssen sich noch Frauen zu Wort melden, um mit Slogans wie „Viva la Vulva“ darauf hinzuweisen, dass das weibliche Geschlecht mehr als die Vagina ist, und dass noch heute ein beträchtlicher „Orgasmus-Gap“ zwischen Mann und Frau besteht, weil im durchschnittlichen Geschlechtsverkehr die Klitoris viel zu wenig einbezogen werde, das weist eben doch noch auf jene alte Geschichte mit den Hysterikerinnen zurück. Und dabei schien es doch in den lustvollen 1920ern und in den befreienden 1970ern auch mit jeweils großem Absatz von Vibratoren einen Durchbruch gegeben zu haben. Man denke nur an Nina Hagen, die vor 40 Jahren im „Club 2“ im ORF vor laufender Kamera sehr deutlich machte (und vorführte!), was für die Freude der Frau ausschlaggebend war.

    „Masturbation ist eine essentiell krankhafte Handlung“

    Aber wenn jetzt, 2019, der Kulturwissenschaftler Claus-Steffen Mahnkopf eine „Philosophie des Orgasmus“ vorlegte, ist sein Befund doch: dass gerade in Zeiten überall verfügbarer Pornografie ein Bild von Sexualität absolut vorherrsche, das am männlichen Höhepunkt ausgerichtet sei. Es geht um steile Erregungskurven und mächtige Explosionen, um eine Art Leistungssport. Und hätte eine Gesellschaft, die sich auf die komplexere, mehr auf Dauer, Person und Genuss aufbauende Sexualität der Frau einließe, viel mehr zu gewinnen als nur mehr Freude – auch ein anderes Körperbewusstsein. Und der Philosoph Wilhelm Schmid hatte in seinem Büchlein „Sexout“ darauf hingewiesen, dass sich das Leistungsprinzip, das Sex als Performance verstehe, ohnehin zusehends erschöpfe. Was steht da also historisch zwischen der Frau und dem Orgasmus und der doch offenbar wichtigen Wirkung in der Gesellschaft? Denn an einer generellen Tabuisierung der eigenen Lustentwicklung wie dereinst kann es ja nicht mehr liegen, auch wenn der Vatikan noch 1975 verkündete: „Masturbation ist eine essentiell krankhafte Handlung.“

    Den großen Erklärbogen liefert das Psychologenpaar Christopher Ryan und Cacilda Jethá in „Sex – Die wahre Geschichte“. Denn schon im 4. Jahrhundert vor Christus befasste sich Hippokrates mit der Hysterie, und seit dem Mittelalter habe sie in jedem medizinischen Lehrbuch für Frauenkrankheiten gestanden. Was die Therapie anging, setzte sich gegen frühere Wechselbäder und spätere Elektroschocks die manuelle durch, zu deren Schwierigkeit der Arzt Nathaniel Highmore 1660 schrieb: Die Technik sei nicht leicht zu erlernen und erinnere an „das Jungenspiel, sich mit der einen Hand über den Bauch zu reiben und mit der anderen auf den Kopf zu klopfen“. Vor allem aber trennt sich zweierlei. Sex galt laut dem Anthropologen Donald Symons als „Gefälligkeit, die Frauen den Männern erweisen“. Die Hysterie galt nach William Harvey als „grauenvolle Überspanntheit des Gemüts“ bei Frauen, neben Reizbarkeit und Angstzuständen verbunden mit einem „Gefühl der Schwere im Unterleib“. In den USA wurde im Jahr 1875 geschätzt, dass 75 Prozent der Frauen einer diesbezüglichen Behandlung bedurften – und bemerkt, dass die Therapie dagegen zu den lukrativsten auf dem Markt gehöre. Klar, die Patientinnen kamen, so schreiben Ryan und Jethá, „einfach nur immer wieder, begierig auf neue Behandlungen“.

    „Der Kreuzzug gegen die weibliche Libido“

    Und das alles war nach ihnen eben nicht nur „eine vereinzelte Verirrung in der fernen Vergangenheit“, sondern „ein Element eines uralten Kreuzzuges, der die weibliche Libido pathologisieren soll“. Zwischen der Frau und dem Orgasmus nämlich stand: der Mann. Ihre Sexualität sei ihm, spätestens seit die Menschen sesshaft geworden sind, in Besitzverhältnissen und monogamen Beziehungen leben, ungeheuer gewesen. Als gute Frau, als „geistig normal entwickelt und wohlerzogen“ (Psychopathia Sexualis, 1886) galt die Frau, „deren sinnliches Verlangen ein geringes“ ist. Alles andere machte ihm Angst, überforderte ihn, entzog sich seiner Kontrolle. Und die Autoren meinen: „Möglicherweise ist das ja immer noch so.“

    Die frühen Vibratoren tauchten noch unter Annoncen für Haushaltsgeräte auf – heute gibt einen eigenen riesigen Markt für Sexartikel. Die meisten für weibliche Körper – und für männliche Fantasien. Aber zur Therapie könnte vielleicht gerade den Herren (und damit der Gesellschaft) helfen, wenn sie ab und an einstige Doktorspiele dächten.

    Bücher zum Thema

    • Claus-Steffen Mahnkopf: Philosophie des Orgasmus. Suhrkamp, 245 S., 12 Euro
    • Christopher Ryan, Cacilda Jethá: Sex – Die wahre Geschichte. Klett-Cotta, 430 S., 25 Euro
    • Wilhelm Schmid: Sexout. Insel, 130 S., 10 Euro
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