Als ich dem Alphorn zum ersten Mal begegne, schaue ich erst mal in die Röhre. Wenn ich das eine Auge zukneife und mit dem anderen durch das lange, hohle, schnurgerade Holzstück blicke, sehe ich, wie das Licht am anderen Ende in den Schalltrichter fällt. Keine Biegung und kein Umweg, es gibt hier weder Tricks noch Ventile. Fein geriffelt, glatt geschmirgelt und vor allem schwer liegt das Holz in der Hand. Aus vier Teilen besteht die Röhre, aber wirkt wie aus einem Guss. Ich soll 3,50 Meter Fichte zum Klingen bringen? Ich bin kaum größer als 1,60 Meter. Könnte ich auf meinen eigenen Schultern stehen, würde mich das Alphorn immer noch überragen. Wir beide müssen in den kommenden Tagen eine Wellenlänge finden, eine gemeinsame Schwingung, das Alphorn und ich.
Im Kloster Ochsenhausen, in der baden-württembergischen Landesakademie für Musik, haben sich für einen fünftägigen Kurs versammelt: zwei dutzend Menschen, die das Alphorn lieben. Und ich, die Anfängerin. So stehe ich jetzt im Klostersaal in einer Reihe mit erfahrenen Alphornisten, die ihre Rieseninstrumente warmspielen. Ich spiele selbst zwar seit Langem Waldhorn, dieses goldene, runde Horn für die Konzertbühne, gespielt von Fliegenträgern, geeignet für Beethoven, Brahms, Mahler. Jetzt aber: Ein Urhorn aus Holz.
Aufgemerkt. „Wir müssen uns jetzt frei spielen“, ruft unser Dozent, Martin Roos, eine Schweizer Melodie in der Stimme. In seinen lockigen Haaren verstecken sich kleine runde Brillengläser. Als Profi am Alphorn weiß er um dessen Wirkung: Wenn sich Unruhe in der Gruppe breitmacht, genügt ein leiser Ton und im Raum ist kein Wort mehr zu verstehen. Mit Lippenspannung und viel Puste aus der Tiefe entsteht – ein Ton. Bald spüre auch ich: Das Mundstück aus Holz vibriert und mit ihm das Horn. Warm fühlt sich das an, und so klingt es auch.
„Das Horn ist ein göttliches Instrument...“
Einen einzelnen schönen Ton zu spielen, scheint mir noch kein Kunststück. Aber die richtigen Noten zu treffen, vor allem wenn die Naturtöne in die Höhe klettern – das ist heikel bis waghalsig. Oft genug scheitert der Versuch. Dann klingt es wie Schluckauf. Hoppla, über den Ton gestolpert. Ein Moment der Peinlichkeit. In Hornistenkreisen kursiert deshalb der Witz: „Das Horn ist ein göttliches Instrument. Der Hornist bläst hinein, aber was dabei rauskommt, weiß nur der liebe Gott.“
In jeder Ecke und jedem Gang des Klosters schweben jetzt Hornklänge. Und jeder Ton erzeugt eine andere Atmosphäre. „Das spürt man schon. Das ist bei jeder Stimmung eine andere seelische Korrespondenz“, sagt Martin und klingt dabei etwas mystisch. Aber es stimmt dann doch: Ein F-Horn klingt warm und dumpf. Das etwas kürzere Ges-Horn klingt heller und klarer.
„Eure Ohren spüre ich“, sagt Martin und lächelt uns zu. Eben hat er mit einer Kursteilnehmerin den „Moos-Ruef“ gespielt. Was wie eine sanfte, meditative Melodie klingt, aus der hier und da ein Ton aus der Reihe tanzt, war 1980 ein Schocker für Alphorn-Puristen. Martin erklärt: „Die Kritik in der Schweiz war laut: Das wollen wir nicht hören. Das ist nicht die schweizerische Tradition. Hat so ein Spitzenmusiker es nötig, sich mit so etwas zu profilieren?“ Der Spitzenmusiker ist Hans-Jürg Sommer. 1980 hatte er den Moos-Ruef komponiert. Mittlerweile haben sich die Schweizer mit dem neuen Stil nicht nur versöhnt, sie lieben ihn. Denn: „Das haben die Schweizer schon gerne, wenn das Alphorn ihrer Nation zugeordnet wird“, sagt Martin. „Aber solche Hörner und ähnliche gibt es weltweit. In Rumänien, in Tibet, im Kaukasus.“ In Südafrika habe ihm ein Taxifahrer erzählt: „Das Instrument kenne ich, das spielen wir hier doch auch.“
„Es ist noch näher am Menschen“
Zehn Jahre alt war Martin Roos, als er das Alphorn für sich entdeckte. Es war eine Notlösung. Der Junge suchte das Posthorn auf der Anmeldeliste für die örtliche Musikschule in Sarnen. Und fand stattdessen das Alphorn. Was den Reiz des Urhorns ausmacht? „Es ist noch näher am Menschen als andere Instrumente. Das ist Musik für die Seele, nicht für den Wettbewerb.“ Inzwischen sei in seiner Heimat ein regelrechter Alphorn-Hype ausgebrochen. „Diejenigen, die das Horn trotzdem noch belächeln, sind schon ein wenig antiquiert, oder?“ Auch die Gruppe in Ochsenhausen teilt sich: Es gibt das Lager der Traditionalisten und das der Wagemutigeren. Jene, die gerne Walzer und Polkas spielen. Und solche wie Martin, die sich nicht allzu viel um strenge Grenzen der Alphorntradition scheren. Zwischen den Säulen der Klosterbibliothek spielt er uns am ersten Tag ein Konzert: Blues, Avantgarde, Experimente.
Doch haben alle Hornisten etwas gemein? Gibt es einen Charakterzug, der sie verbindet? „Wir sind alle nahe an der Seele“, sagt Martin. Vielleicht herrscht auch deshalb in diesen Tagen, wenn einmal kein Horn zu hören ist: Stille. Es kann kein Zufall sein, dass die Uhr auf dem Turm der Klosterkirche stehen geblieben ist, fünf Tage lang ist es hier halb zwei. Erst abends im Kellergemäuer der Klosterstube bricht die Stille auf. Da erzählt Isabelle. Sie ist Ärztin und kommt aus dem, nun ja, Mutterland der langen Röhre, aus dem Jura, der französischen Schweiz. Im 19. Jahrhundert sei das Alphorn dort fast ausgestorben, sagt sie. Heute sei es wieder unfassbar beliebt. „Vielleicht ist es eine Mode, vielleicht liegt es auch am Tourismus.“ Für sie ist diese Musik jedenfalls dann am schönsten, wenn sie mit ihrem Ultraleichthorn aus Carbon in den Bergen spielt. Wenn der Klang von Felswänden perlt und in alle Windrichtungen hallt.
„Ein feines Spiel der Muskulatur“
Gerli, ein oberbayerischer Gentleman im Trachtenjanker, erinnert sich an sein erstes Horn: eine „schreckliche alte Wurzel“. Doch dann kaufte er ein neueres, entwickelte Ehrgeiz, nahm Unterricht bei Roos: „Der Martin ist schon ein besonderes Goldstück.“ Gerli zählt zu den Fortgeschrittenen. Er trifft die hohen Töne, spielt in einer Lage, in der ein Alphorn wie eine Trompete klingt – nur feiner, eleganter. In den Tiefen brummt es dagegen wie ein Presslufthammer, der im Zimmer nebenan an den Klostermauern rüttelt. Spielt die gesamte Gruppe im Forte, muss man sich fast um die Stuckdecke des Saals sorgen. Leise zu spielen, piano, ist die wahre Herausforderung. Und: der Transport. Wie eine sperrige Lanze muss ich das Horn mit Vorsicht durch den Saal hieven. Steht das Instrument aufrecht, kratzt es an der Decke.
Meine Kollegen wollen testen und vergleichen. Zehn Hörner stehen jetzt in einer Reihe, Modelle aus Schwaben und der Schweiz, aus Bergfichte und Kunststoff. Beim Test merke ich: Dass sich ein Horn gut anfühlt, wenn man es spielt, ist das eine. Welcher Klang aber in 3,50 Meter Entfernung aus dem Trichter kommt, ist etwas ganz anderes. „Das ist ein feines Spiel der Muskulatur“, sagt Martin. Meine Lippen? Brennen ab Tag zwei, fühlen sich bald schlapp und pelzig an. Aber bis zum Abschlusskonzert reicht die Kondition. Wir spielen in der Kirche St. Martin in Memmingen. Die Stimmung ist feierlich, der Klang gigantisch. Drei Teilnehmer hatten vor dem Konzert noch Bedenken: Das Publikum, die ganze Aufregung – muss das sein? Ganz unrecht haben sie nicht. Das ist kein Instrument für Wettbewerbe. Für Stress und Lampenfieber. Es ist ein Instrument für die Seele.