Paris ist die Stadt der Lichter oder der Liebe, je nachdem, wie man es gerade sieht. Sie ist aber diesen Sommer auch die Stadt, in der die Olympischen Spiele stattfinden werden. Die Stadt, die Tausende, wenn nicht Hunderttausende besuchen werden. In Paris geht es politisch immer heiß her – die Zeit vor den Spielen macht da keine Ausnahme. Erst einmal die alles andere überlagernden Neuwahlen, dann all die anderen Debatten, unter anderem jene von rechtsextremen Kreisen geschürte über die afrikanisch-stämmige Sängerin Aya Nakamura, die bei der Eröffnung singen wird. Auch die Reinigung der Seine für die Schwimmerinnen und Schwimmer hat es nicht geschafft, der Bürde eines Politikums auszuweichen, und und und. Puh, ganz schön viel Rummel, um ein Event, bei dem es sich um ein Sommer-Highlight nach dem Motto „Friede, Freude und Weltrekorde“ handeln soll. So zumindest die Vorstellung: Auf der Tartan-Bahn im Stade de France sollen Leichtathletik-Rekorde gebrochen werden, in der kristallklaren Seine sollen die Schwimmer die Maßstäbe für das kommende Jahrzehnt des Sports setzen und die Skateboarder sollen Pioniere von Randsportarten sein, die in Zukunft bei den Olympischen Spiele die ganz große Bühne für sich haben sollen. Ein mehr als zweiwöchiger Marathon an Veranstaltungen – der am letzten Tag unter anderem mit dem Marathon endet. Unser Reporter hat vor Kurzem dort schon einmal die historische Strecke erkundet.
Startpunkt „Hotel du Ville“, das Rathaus von Paris. Am 10. und am 11. August werden hier die Marathonläufe der Männer und Frauen gestartet. Schon seit einigen Wochen hängen an der Fassade des Hauses im Stil der Neorenaissance blaue Banner. Die Aufschrift „Paris 2024“ ziert jeden freien Zentimeter des Banners, der blaue Hintergrund und das Design erinnert an die legendäre Aufmachung der Olympischen Spiele 1972 in München. Selbst an der Fassade des Gebäudes hängt ein weißer Schriftzug, der auf das Event des Jahres hinweisen soll.
Begleitet wurde die Zeit vor den Olympischen Spielen von Protesten.
An diesem verregneten Tag lockt das Rathaus vor allem Touristinnen und Touristen an, Selfiesticks werden ausgefahren. Die Passantinnen und Passanten schauen mit großen Augen auf das Rathaus, während der Wind gegen die Regenschirme peitscht und der Regen diesen grauen Tag noch ungemütlicher macht, als er bereits ist. Schräg gegenüber des Rathauses, in Sichtweite der Touristen und Passantinnen, steht eine Gruppe Protestierender mit orangefarbenen Warnwesten. An alle Passanten händigen die Protestierenden Flyer aus, auf denen sie hinweisen: „Die Olympischen Spiele können nicht ohne uns stattfinden.“
Es sind die Mitglieder einer Gewerkschaft, besser gesagt der „Confédération générale du travail“, kurz CGT. Vor dem Pariser Rathaus wollen sie an diesem Tag auf die niedrigen Löhne der Angestellten im Öffentlichen Dienst aufmerksam machen. Zu gering sei die Wertschätzung, die sie erfahren, zu gering die Entlohnung für ihre Arbeit. Sie wittern gegen die Zuständigen, die hinter der dem Großereignis in ihrer Stadt stecken, gegen Macron und gegen die Mitglieder des Pariser Rathauses. Und damit sind sie nicht die Einzigen: Bereits Anfang des Jahres waren Bürgerinnen und Bürger auf die Straßen der Hauptstadt gegangen, um gegen die Ausrichtung der Spiele zu protestieren. Die Pariserinnen und Pariser fühlten sich vernachlässigt, fürchteten, ihre Bedürfnisse würden untergehen, sie würden kein Gehör finden. Und tatsächlich wurde die Stadt vor den Spielen umgekrempelt: Bauzäune, die jede Sehenswürdigkeit absperren, prägen die Pariser Landschaft. Auf der Stadtautobahn, die sich vor den Toren der Stadt rund um die Metropole schlängelt, ziert die linke Spur eine weiße Aufschrift: „Paris 2024“. Dabei sollen Personen, die zu den Olympischen Spielen wollen, die Überholspur nutzen können.
Bereits 1900 und 1924 fanden die Olympischen Spiele in Paris statt.
Denn darum geht es bei diesen Spielen der Überholspur: In der Stadt hat man das Gefühl, Olympia soll alle bisherigen Großereignisse, die in Paris stattgefunden haben, übertönen, in den Windschatten aller Großereignisse stellen. Auch die, die schon einmal in der Stadt waren. Das erste Mal fanden die Olympische Spiele 1900 in Paris statt, das zweite Mal 24 Jahre später. 1900 wurde in der Seine noch geschwommen und gerudert, bereits 1923 kamen die Verantwortlichen zu dem Schluss, es sei aus gesundheitlichen Gründen keine gute Idee mehr, in der Seine zu schwimmen. Gut mehr als 100 Jahre später wollte man den Athletinnen und Athleten diesen Genuss wieder ermöglichen: Großmundig kündigte man an, die Schwimmwettkämpfe würden in dem Fluss, der mitten durch Paris geht, abgehalten werden. Das einzige Problem: Der Fluss ist alles andere als sauber – trotz der 1,4 Milliarden Euro, die man im Großraum Paris in den vergangenen Jahren in Kläranlagen und das Abwassersystem investierte. Forscher warnten vor Krankheiten, die man beim Schwimmen in der Seine zuhauf aufsammeln würde. Wasserprüfer meldeten noch im Juni bedenklich viele Kolibakterien im Fluss. Präsident Macron, die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo und der Polizeipräsident Laurent Nuñez verabredeten sich dennoch zu einem öffentlichkeitswirksamen Anschwimmen verabredeten – wohl auch, weil man sich die schönen Bilder während Olympia nicht entgehen lassen möchte: Stadt, Sportler, Fluss.
Das gefiel einigen Bürgerinnen und Bürgern gar nicht: Sie verabredeten sich im Internet, an dem Tag, an dem die drei Herrschaften schwimmen wollten, alle gemeinsam ihr Geschäft in der Seine zu verrichten. Die Spitzenpolitiker verschoben – offiziell aus politischen Gründen– ihre Aktion. Die Protestierenden taten dem gleich. Zuletzt aber hat sich dank der Sommertemperaturen die Qualität der Seine tatsächlich wieder verbessert – und die Bürgermeisterin kraulte gemeinsam mit dem Pariser Organisationschef der Spiele, Tony Estanguet, eine Runde in der Seine.
Seit dem Frühjahr ist der Zugang zum Fluss an vielen Stellen durch Bauzäune abgeriegelt, unter anderem wegen des Marathons, der quer durch die Stadt und die neun Städte des Pariser Umlands führt – und der auch dies ist: Ein Marathon der Sehenswürdigkeiten oder wie es Olympiachef Estanguet ausdrückt: „Die Athleten, die Tausenden von Zuschauenden und die Millionen von Fernsehzuschauern werden eine besondere Reihe von legendären Orten erleben, von der französischen Hauptstadt bis nach Versailles, durch die symbolträchtigen Landschaften der Île-de-France. In diesem außergewöhnlichen Rahmen stellen sich die Athletinnen und Athleten auch einer sportlichen Herausforderung von noch nie dagewesenem Schwierigkeitsgrad dank einer anspruchsvollen Strecke mit zahlreichen Steigungen.“ Über 400 Höhenmeter müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der 42,195 Kilometer langen Strecke bewältigen.
Der Marathon der Olympischen Spiele in Paris hat einen geschichtlichen Hintergrund.
Zumindest einen kleinen Teil der Strecke kennen die meisten Touristinnen und Touristen aus eigener, wenn auch weitaus langsamerer, Lauferfahrung: Pariser Rathaus, dann vorbei an der Oper Garnier, der alten Börse, vorbei an der gläsernen Pyramide des Louvre und am Place Vendome zum Jardin des Tuileries … Auch der Garten, der aussieht, wie ihn ein Disney-Autor konzipieren würde, spielt in der Geschichte der Olympischen Spiele eine tragende Rolle: Dort wurde 1793 die Olympiade der Republik erdacht. Ein Jahrhundert vor den ersten modernen Olympischen Spielen in Athen im Jahr 1896 wurde von 1796 bis 1798 dreimal das olympische Ereignis in Paris veranstaltet. Die Zuschauer sahen damals Schiffswettkämpfe auf der Seine, Fuß-, Pferde- und Wagenrennen oder Ringerwettkämpfe. Bei den Spielen von Paris 1900 – der zweiten Auflage der Olympischen Spiele der Neuzeit – fanden im Tuilleriengarten die Fechtturniere für Säbel und Florett statt. Das Novum war damals, dass zum ersten Mal drei verschiedenfarbige Medaillen verteilt wurden. Dieses System ebnete den Weg für alle folgenden Turniere und hält sich bis heute.
Anwohner von Seine-Saint-Denis fürchten um bezahlbaren Wohnraum.
Weiter laufen die Läuferinnen und Läufer an der Seine entlang in Richtung stadtauswärts. An der Port du Saint-Cloud verlassen die Sportlerinnen und Sportler die glamourös-graue Pariser Innenstadt und durchqueren die südwestlich von Paris gelegene Gemeinde Bologne-Billancourt. Umso weiter man sich von Paris entfernt, je grüner wird die Umgebung, desto weiter in den Hintergrund rückt das Rauschen der Großstadt. Auf halbem Weg nach Versailles werden die Sportlerinnen und Sportler den Trubel der Großstadt hinter sich haben. Apropos: ein weiteres Novum des diesjährigen Marathons wird sein, dass einen Tag vor dem Wettkampf die Strecke für jedermann und jederfrau geöffnet wird. Das heißt, dass beim „Marathon pour Tous“ alle mitmachen können, die wollen und über zwei verschiedene Distanzen, einmal den vollen Marathon und einmal zehn Kilometer, die gleiche Strecke laufen werden, die am Tag darauf die Profis absolvieren.
Spiele für alle? Pour Tous? In den drei Gemeinden des Départements Seine-Saint-Denis, in denen das Olympische Dorf gebaut wurde, sind die Anwohner beunruhigt und haben das „Komitee der Wachsamkeit über die Olympischen Spielen in (der Stadt) Saint-Denis“ gegründet. Sie machen sich Sorgen, dass die für Olympia nun neu gebauten Wohnungen danach verkauft und die Wohnpreise in die Höhe treiben werden. Und sie stützen sich dabei auch auf die Geschichte: US-amerikanische Forscher haben herausgefunden, dass der Bau von olympischen Dörfern in der Vergangenheit zur Gentrifizierung der Gegend drumherum geführt hat. Das wäre in einem der ohnehin schon ärmsten Départements Kontinentalfrankreichs fatal. Die Anwohner fürchten zudem, dass sich nicht nur während, sondern auch nach den Spielen die Luftqualität verschlechtern wird, trotz der vier neuen Metroanbindungen, die pünktlich zu den Spielen fertig sein sollen. Der lokale Bürgermeister, Mathieu Hanotin, wirbt hingegen für den Verkauf der Wohnungen und spricht sich für Gentrifizierung aus. „Die Spiele werden dazu beitragen, dass wir eine gemischtere Bevölkerung in Seine-Saint-Denis haben – bisher haben wir 52 Prozent Sozialwohnungen. Wir benötigen mehr reguläre Wohnungen, um auch andere Bevölkerungsschichten anzuziehen“, unterstreicht Hanotin.
Die Olympischen Spiele haben in Paris eine lange Geschichte.
Zurück zum Sportlichen: Weiter geht es für die Läuferinnen und Läufer auf der Rue de Versailles in Richtung Westen. Denn dort wartet der nächste Höhepunkt auf alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Eine der größten Palastanlagen Europas, das Schloss Versailles. Spätestens dort tauchen die Sportlerinnen und Sportler endgültig in das Grüne ab. Seit Wochen sind hier beide Seiten der Rue de Versailles mit Wimpeln geschmückt, die für die Spiele werben sollen. Vor knapp 235 Jahren zogen genau hier am 5. Oktober 1789 fast 6.000 vorwiegend aus dem Arbeiterviertel Saint-Antoine stammende Frauen zum königlichen Schloss nach Versailles. Angefeuert von dem Schlachtruf „Versailles schlemmt, Paris hungert“ und unterstützt von etwa 15.000 Nationalgardisten setzten sie sich gegen die Ungleichheit ein, die unter König Ludwig XVI. zum Alltag gehörte. In Versailles angekommen empfing der König die Frauen und versprach ihnen Lieferungen von Lebensmitteln. Zudem unterschrieb er die Menschenrechtserklärung und bewilligte die Abschaffung der Privilegien des Adels, beides Forderungen der Nationalversammlung.
In Erinnerung an dieses historische Ereignis sollen dieses Jahr bei dem Marathon die Frauen besonders zelebriert werden. Im Gegensatz zu den vergangenen Ausgaben wurden die Spiele vom Marathon der Männer beendet. Dieser Fixpunkt wurde nun verändert. Am letzten Tag der Spiele, dem 11. August, gehen die Frauen an den Start. Ein Tag nachdem die Männer bereits die 42 Kilometer lange Strecke gelaufen sind.
Und dann, an diesem hoffentlich sonnigen 11. August, werden die Läuferinnen in Versailles umkehren, sich an der Seine entlang immer weiter in Richtung Paris begeben, vorbei an Kleinstädten wie Meudon oder Issy-le-Molineaux, immer mit Blick auf den Eiffelturm. Denn der steht auch noch auf der Liste an Sehenswürdigkeiten, die der Lauf passiert. Von 1887 bis 1889 wurde das 330 Meter hohe Bauwerk an dem Ufer der Seine aus Eisenteilen errichtet. Kopiert wurde es in Tokio, wo der „Tokyo Tower“ dem Pariser Original von der Bauweise her ähnelt. Ein passender Zufall scheint es auch zu sein, dass die vergangenen Olympischen Spiele 2021 dort stattfanden, wo der „Tokyo Tower“ steht und die kommenden nun in der Stadt sind, in der das Original steht. Auch rund um den Eiffelturm das gleiche Bild: Bauzäune und Absperrungen. Denn auch in unmittelbare Nähe des Turms werden Wettkämpfe stattfinden: In der Eiffelturmarena wird unter anderem Beachvolleyball gespielt.
Der Marathon in Paris geht am Schloss Versailles vorbei.
Zum ersten Mal laufen die Frauen den Marathon in Paris nach den Männern.
Beim Eiffelturm werden Läuferinnen nach rechts abbiegen und sich in Richtung Esplanade des Invalides machen. Denn dort, gegenüber dem prächtigen Hôtel des Invalides, mitten in Herzen Paris und auf der Zielgeraden des Marathons und der Spiele, klatschen die etwa 7000 Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne Applaus – an einem sonnigen Sonntag. So ist zumindest die ideale Vorstellung. Denn auch die Grünfläche im Stadtteil 7. Arrondissement wurde in eine Sportstätte umgewandelt: Für Besucherinnen und Besucher ist der Zugang wegen der Tribüne rund um den Quai D‘Orsay versperrt, neben dem Zieleinlauf des Marathons sollen dort auch die Wettkämpfe im Bogenschießen stattfinden. Kurz vor Beginn der Spiele ist der Blick auf das prächtige Schloss mitten in Paris noch von Bauzäunen versperrt, pünktlich zum Beginn sollen die jedoch verschwinden.
Wie im Übrigen etliche Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, denen vor dem Massenansturm graut. Viele, so sieht man es immer wieder in den sozialen Medien, nutzen die Zeit für eine Paris-Auszeit und fahren in den Urlaub. Die anderen ergattern vielleicht noch das eine oder andere Ticket – die es, wenn auch nicht mehr für alle Disziplinen, auf dem offiziellen Portal noch gibt – für unter 50 Euro bis zu einem hohen dreistelligen Bereich. Oder aber sie müssen einfach durchhalten, bis am 11. August der Marathon diesen Marathon des Sports beendet.