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Mitsingkonzerte: Neuer Trend Rudelsingen: Und jetzt singen alle mit

Mitsingkonzerte

Neuer Trend Rudelsingen: Und jetzt singen alle mit

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    Mitsingkonzerte, so genanntes Rudelsingen, wird immer beliebter.
    Mitsingkonzerte, so genanntes Rudelsingen, wird immer beliebter. Foto: Claus Völker/dpa

    Die Bühne ist in geheimnisvoll blauviolettes Licht getaucht. Für einige Momente wird es still, bis die ersten Töne erklingen. Dann erwacht der Saal zum Leben. „Music was my first love“, setzt Vorsänger Uli Wurschy aus voller Kehle zu singen an. „And it will be my last“, fällt das Publikum dankbar mit ein, erhebt sich und fängt an, lautstark im Takt zu klatschen. Und gleich folgt der nächste Hit, Abbas „Gimme! Gimme! Gimme! A man after midnight“. Das Klatschen wird schwungvoller, die ersten Hemmungen fallen, der Chor klingt kräftiger. Wie ein Popstar ruft Wurschy jovial in die Menge: „München, wie geht’s euch?“ Offenkundig gut.

    Mehrere hundert Menschen haben sich im Münchner Gasteig zum „Rudelsingen“ versammelt. Unter diesem Namen, einer geschützten Marke, finden seit 2011 in einigen deutschen Städten Mitsing-Konzerte statt, irgendwo zwischen Massen-Karaoke und alkoholfreier Wiesn-Gaudi. Das Publikum singt, klatscht und schunkelt, für Begleitung, Anleitung und Pausen-Späße sorgen zwei Musiker. In Süddeutschland ist das „Team Odenwald“ unterwegs: Volker Becker an Piano und Akkordeon, Uli Wurschy an der Gitarre.

    Inzwischen hat es bereits 1800 dieser Konzerte gegeben, Frequenz steigend. „Es wächst und wächst immer weiter“, sagt der Sänger und Musiker David Rauterberg aus Münster, auf den das Konzept zurückgeht. Im Herbst steht das erste Konzert im Ausland an, in den Niederlanden. Auch in Augsburg wird es im Oktober erstmals ein Rudelsingen geben. „Wir sind in allen Bundesländern bis auf das Saarland aktiv.“ Geleitet werden die Konzerte von Musiker-Teams: „Derzeit sind es zehn, das elfte ist am Start.“

    Der Name lehnt sich an den Ausdruck „Rudelgucken“ an, der sich nach der Fußball-WM 2006 als Synonym für „Public Viewing“ eingebürgert hat. „Das Wort Rudel steht für das Lockere dieser Veranstaltungen“, sagt Rauterberg. Deshalb findet er den Namen prima. Die Konzerte laufen stets nach dem gleichen Prinzip ab: Angestimmt wird ein Potpourri bekannter Hits der letzten Jahrzehnte, die Hälfte davon ist deutsch. Die Texte werden per Beamer an die Wand projiziert. „Ob das München oder Hamburg ist, spielt keine große Rolle. Nur in den neuen Bundesländern unterscheidet sich das Programm, weil man dort ein etwas anderes Liedgut hat“, berichtet Rauterberg.

    Für zwei, drei Stunden gehören alle zum „Rudel“

    Aber woher kommt der Erfolg? „Es ist ein Grundbedürfnis, miteinander zu singen“, sagt der Musiker. „Ich habe den Eindruck: Jeder Zweite singt gern. Aber die Gelegenheiten dazu fehlen.“ Was sagen die Konzertgäste? Da ist etwa Sieglinde, eine alte Dame, zum ersten Mal dabei. Sie zeigt sich beeindruckt und sagt: „Wann kommt man sonst mal dazu?“ Ein paar Lieder zu Weihnachten, gelegentlich ein dürres Geburtstagsständchen und vielleicht ein bisschen Summen unter der Dusche: Viel mehr ergibt sich bei modernen Städtern meist nicht.

    Warum dann nicht in einen Chor eintreten? Konzertbesucherin Meryem, 51, hat eine Zeit lang bei einem mitgemacht, ist inzwischen aber ausgetreten: „Diese ganzen Verpflichtungen sind irgendwie stressig.“ Blieben noch Gottesdienste, um sich gesanglich auszutoben. Aber dort macht das Singen nicht so viel Spaß, meint der Musiker Rauterberg. „Und das Angebot an Liedern ist doch etwas eindimensional.“ Also: Rudelsingen.

    Beim Deutschen Chorverband sieht man das Format nicht als Konkurrenz: „Wir begrüßen alles, was dazu beiträgt, dem Singen etwas von seinem verstaubten Image zu nehmen und es wieder stärker in den Alltag zu integrieren“, sagt Nora-Henriette Friedel vom DCV. „Da ist auch die Hoffnung dabei, dass jemand sagt: Das will ich regelmäßiger und öfter machen.“ Und doch einem Chor beitritt. Laut Deutschem Musikinformationszentrum ging die Zahl der Laien-Chöre in den letzten Jahren leicht zurück. „Immer öfter gibt es inzwischen aber zum Beispiel Projekt-Chöre“, so Friedel. Sie existieren meistens nur eine begrenzte Zeit, um ein bestimmtes Werk einzustudieren.

    Zurück zum Gasteig. Dort greift Volker Becker zum Akkordeon und stimmt Peter Alexanders „Kleine Kneipe“ an. Der alte Schlager? Aber das Publikum reagiert positiv, singt inbrünstig mit und bewegt sich ziemlich einmütig im Takt. Aber wer singt hier eigentlich? Es sind mehrheitlich Frauen, ansonsten ergibt sich ein buntes Bild. In der ersten Reihe feiert eine Horde einen Junggesellinnenabschied, hinten verharren drei Senioren wie versteinert auf ihren Plätzen, daneben schunkelt gut gelaunt eine Gruppe Damen mittleren Alters. So unterschiedlich sie sind: Für zwei, drei Stunden gehören alle zum „Rudel“, ganz unverbindlich. Auch das Gemeinschaftsgefühl trägt zum Erfolg bei. Gerade in Städten, sagt der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger aus Ulm, sei die soziale Isolation eine große Herausforderung für die Gesellschaft. „Veranstaltungen wie das Rudelsingen vermitteln auf einfache Art ein intensives Gemeinschaftserlebnis“, sagt er. „Ähnlich ist das bei den Fangesängen, die im Fußballstadion angestimmt werden.“

    Vielstimmig und manchmal leicht dissonant präsentiert der Münchner Spontanchor Udo Jürgens’ „Mit 66 Jahren“. Wenn der eine oder andere Ton daneben geht, wen stört’s? „Ich bin beim Singen sonst gschamig, wenn ich nichts getrunken habe“, gesteht Meryem. „Aber hier kennt man sich ja nicht.“ Ein anderer Gast stimmt zu und erzählt: „Ich singe sonst nur im Auto, weil mich dann keiner hören und kritisieren kann.“

    Wenn es ums Singen geht, sind die meisten Menschen ziemlich empfindlich. Abfällige Kommentare von Musiklehrern, Eltern oder Bekannten haben sich bei manchen tief eingeprägt. „Das kann ein regelrechtes Trauma sein“, sagt der Musiktherapeut Bossinger. „Singen ist nämlich ein unmittelbarer Ausdruck der eigenen Person. Man fühlt sich nackt mit der Stimme. Deshalb treffen negative Kommentare zentral die eigene Persönlichkeit.“ Immer wieder kommt es vor, dass Menschen aufgrund beschämender Erfahrungen in der Kindheit meinen: „Ich kann nicht singen!“ Diese Aussage, betont Bossinger, treffe nur in ganz seltenen Fällen zu. „Bei uns wird Musik zu sehr mit Leistungsdenken verknüpft“, kritisiert er. Konzepte wie das Rudelsingen seien gerade deshalb so erfolgreich, weil sie sich davon abwendeten.

    Glückshormone, von denen man tagelang zehren kann

    Es gibt weitere Formate mit ähnlichen Konzepten, die Mitsingkonzerte „Frau Höpker bittet zum Gesang“ oder der Berliner „Ich-kann-nicht-singen-Chor“, bei dem sich einmal pro Monat „alle, die schon immer singen wollten, aber bisher nicht zu singen wagten“ treffen. Die Initiative „Hamburg singt“, ein unverbindliches Chortreffen „für Sänger und Nichtsänger“.

    In München schmettert der Saal inzwischen „Es gibt kein Bier auf Hawaii“. Wie beim Oktoberfest? Dass die Stimmung ein bisschen ans Bierzelt erinnern könnte, ärgert die Veranstalter nicht. „Wer im Bierzelt singt, ist oft nicht so textsicher“, wendet der Pianist Volker Becker bloß ein. „Super beim Rudelsingen ist, dass man die Texte genau lesen kann. Da lässt man sich nicht so berieseln.“ Manchmal kommt es dadurch zu Aha-Erlebnissen. Einmal, erzählt Becker, kam nach einem Konzert ein alter, sehr korrekt gekleideter Herr schnurstracks auf ihn zu. „Ich hatte schon Sorge, dass er sich beschwert“, erzählt Becker. „Er sagte aber: Also der Text gerade, der war ja unglaublich gut! Von diesen Ärzten werde ich mir eine Schallplatte kaufen.“

    Manche kommen regelmäßig. Jens, hoch aufgeschossen, Mitte 50, kurzes weißes Haar, gehört zu den Stammgästen: „Ich singe gern und viel, wann immer ich die Chance dazu habe.“ Im Job arg eingespannt, ständig am Schreibtisch, hier: „Bei der Stimmung vergisst man die Anspannung. Wenn die Musik losgeht, ist der Stress weg. Da werden Glückshormone ausgeschüttet, davon zehrt man tagelang.“ Dass gemeinsames Singen guttut, wurde in Studien nachgewiesen: die Konzentration des Stresshormons Cortisol sinkt, die von Immunproteinen steigt. Das „Kuschelhormon“ Oxytocin wird produziert, das Verbundenheitsgefühl in der Gruppe wächst. „Insgesamt wird ein Glückscocktail an Hormonen ausgeschüttet, der die Stimmung hebt und antidepressiv wirkt“, fasst der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger zusammen. Voraussetzung sei aber, dass kein Leistungsdruck ausgeübt würde. Dieser Gefahr jedenfalls ist beim Rudelsingen niemand ausgesetzt. Eher kann es vorkommen, dass sich jemand heiser singt.

    Termin Am Mittwoch, 23. Oktober, findet das erste Augsburger Rudelsingen statt. Beginn ist um 19.30 Uhr im Parktheater im Kurhaus Göggingen.

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