François Bausch zögert nicht lang. Flugs setzt er den Fuß in die rot-weiße Bahn, die gerade den Berg heraufgefahren ist. Das Panoramafenster öffnet den Blick auf einen steilen Abhang, in den die Gleise eingelassen sind. Wer Höhenangst hat, empfindet zumindest Respekt beim Einstieg in die Standseilbahn, die die Tram-Station Pfaffenthal in Luxemburg-Stadt mit dem gleichnamigen Regionalbahnhof verbindet. Bausch, der von 2013 bis 2023 Verkehrsminister Luxemburgs war, hat keine Höhenangst und kann auf der Fahrt entspannt über das Mobilitätsprojekt reden, mit dem das kleine Land international Aufsehen erregt hat. Dass er wie alle anderen in der Bahn kein Ticket gelöst hat, interessiert hier niemanden. Denn der gesamte ÖPNV in Luxemburg ist kostenfrei. Ein Besuch in einem Land, das sich bei Tram, Bus und Rad auf neue Pfade begibt.
Während in Deutschland noch die wenigsten an die Einführung eines 49-Euro-Tickets dachten, konnten Reisende in Luxemburg längst umsonst Bus und Bahn nutzen. 2018 einigte sich die damalige Ampel-Regierung auf die Maßnahme, seit vier Jahren können Menschen ohne Ticket in Luxemburg unterwegs sein. Das gilt tatsächlich für alle Menschen, auch für Geflüchtete oder Touristen. Wer nach Luxemburg kommt, muss sich nicht um Tarifzonen oder den Ort des Ticketkaufs kümmern. Das geht laut Grünen-Politiker Bausch nicht zulasten des Personals. Zugbegleiter hätten schlicht mehr Zeit, sich um den Service zu kümmern.
40 Millionen Euro kostet das Ganze jährlich – finanziert durch Steuergelder
Da das Land recht klein ist und man die einzelnen Verkehrsverbünde an einer Hand abzählen kann, war die Einführung organisatorisch kein großes Problem. Rund 40 Millionen Euro kostet das Ganze jährlich. Dass das Geld aus Steuergeldern kommt, ist für Wissenschaftler Merlin Gillard ein entscheidender Punkt beim Projekt. Er forscht am Luxemburg Institute of Socio-Economic Research zur Mobilität im Land. „Das bedeutet, dass alle dafür zahlen, auch Autofahrer.“ Zu beobachten sei, dass vor allem Menschen aus finanziell schwächeren Schichten den Nahverkehr öfter nutzen. Dagegen habe der Verkehr nicht unbedingt abgenommen. Wobei Gillard einen subjektiven Eindruck wiedergibt. „Leider gibt es keine offiziellen Zahlen dazu, wie sich der Verkehr seit der Maßnahme verändert hat.“ Ohnehin seien die Fahrpreise nur ein Aspekt. Auch die Qualität müsse stimmen, damit Menschen überhaupt auf den ÖPNV umsteigen. Das Großherzogtum setzt also nicht nur auf die Kostenfreiheit des Nahverkehrs, um eine Verkehrswende zu erreichen.
Dabei deutete vor einigen Jahren nicht viel darauf hin, dass Luxemburg einmal mit aufsehenerregenden Mobilitätsprojekten auf sich aufmerksam machen würde. Das Land weist mit rund 700 Autos pro 1000 Einwohner die höchste Autodichte der EU auf, der Bahnverkehr war lange eher ein Stiefkind der Verkehrspolitik. Auch heute sind bei einer Fahrt übers Land oft zwei Autos vor den Einfamilienhäusern zu sehen. „Die Deutschen bauen die Autos und wir fahren sie, das war die Devise hier“, sagt Ex-Minister Bausch. Dass er dabei schmunzelt, legt schon nahe, dass der Ex-Verkehrsminister kein Feind des Autos ist. „Dieses einfach zu verdrängen ist Unsinn und funktioniert nicht.“ Stattdessen hatten er und die von 2013 bis 2023 regierende Ampel-Regierungskoalition es sich zum Ziel gesetzt, den Verkehr breiter aufzustellen.
Eisenbahnnetz in Luxemburg bis 2027 deutlich erweitert
Was damit gemeint ist, zeigt sich an der Haltestelle Pfaffenthal. Ein modernes, verglastes und vor allem sauberes Gebäude, in dem die Wartenden bei Wind und Wetter trocken bleiben. Hier halten Trambahnen und Busse, an einer Radstation leihen Menschen Fahrräder aus und können ihre eigenen Räder sicher abstellen. Dafür gibt es eine sogenannte Bikebox-Station, eine Art Safe für das Rad. Dazu kommt die Standseilbahn, die Leute in wenigen Sekunden zum Nahverkehrsbahnhof Pfaffenthal bringt, der unterhalb der Tramhaltestelle liegt. „Von solchen Stationen, an denen verschiedene Verkehrsmittel aufeinandertreffen, gibt es neun Stück in der Stadt“, sagt Bausch, der selbst mit dem Fahrrad zum Gespräch gekommen ist.
Das Konzept kommt aber nicht nur in der Stadt zum Tragen. Auch in den ländlichen Regionen soll die Mobilität in Zukunft geschmeidiger laufen. Während die Busse früher nur Richtung Hauptstadt fuhren und oft im Stau standen, bringen Expressbusse Reisende heute auch zu anderen Bahnhöfen. Bis zum Jahr 2027 wird das Eisenbahnnetz massiv ausgebaut, laut Bausch soll das modernste Bahnnetz Europas entstehen. Bereits jetzt ist die Verbindung zwischen Frankreich und der luxemburgischen Hauptstadt so gut erschlossen, dass ein Sieben-Minuten-Takt besteht.
Klar, Luxemburg ist klein, ungefähr so groß wie das Saarland. Doch es liegt nicht nur daran, dass im Großherzogtum gefühlt alles etwas schneller läuft, davon ist Bausch überzeugt. „Es ist schlicht und ergreifend der politische Wille, der vorhanden sein muss.“ Der manifestiert sich nicht zuletzt in Zahlen. Dem Verkehrsbündnis Allianz pro Schiene zufolge gab Luxemburg 2022 für die Schieneninfrastruktur pro Kopf rund 600 Euro aus – in Deutschland waren es gerade einmal knapp über 100 Euro.
Pendler-Parkhäuser haben Direktverbindung zum Nahverkehr
Trotz der bereitgestellten Mittel läuft auch im Luxemburger Verkehr nicht alles optimal. Der Bus fährt auf dem Land trotz aller Anstrengungen ähnlich wie in Deutschland nur sporadisch. Für Arbeitnehmende, die dort wohnen, ist der Arbeitsweg ohne Auto kaum zu schaffen. „Außerdem müsste der Verkehr stärker auf die Freizeitgewohnheiten der Leute abgestimmt werden“, findet Forscher Gillard. So sei der Takt gerade am Abend und am Wochenende immer noch sehr dünn. Verbindungen nach Deutschland sind ebenfalls alles andere als optimal, dabei pendeln jeden Tag rund 50.000 Menschen aus dem Saarland und der Region Trier ins Großherzogtum. Von Saarbrücken nach Luxemburg fährt zum Beispiel gar kein Zug. Wer von der saarländischen Landeshauptstadt nach Luxemburg möchte, ist auf einen Reisebus angewiesen, der einmal stündlich verkehrt. Von Trier aus fährt eine Bimmelbahn, die eine Dreiviertelstunde benötigt. Das Angebot ist mangelhaft, das Großherzogtum hat aber nur begrenzt Einfluss auf die Infrastruktur in Deutschland. Da deshalb immer noch viele Menschen mit dem Auto von Deutschland nach Luxemburg fahren, wurden an der Grenze große Parkhäuser mit Busverbindung gebaut. Nutzerinnen und Nutzer können einen Tag kostenfrei parken, wenn sie mit dem ÖPNV weiterfahren. Sichergestellt wird das durch eine App, die das Bewegungsprofil der Menschen festhält.
Mit einer solchen App können Bürger auch die blauen Fahrräder mieten, die überall im Stadtgebiet zu sehen sind. Viele Menschen nutzen das Angebot, trotz der geradezu fahrradfeindlichen Topografie. Möglich wird das durch die zahlreichen Brücken, die die breiten Schluchten im Stadtzentrum überspannen. Und Radfahrer müssen keinen Kleinkrieg mit Autofahrern führen, denn gibt es überall deutlich abgegrenzte Radwege. An der Adolphe-Brücke gibt es sogar einen regelrechten Rad-Highway.
50 Meter hohe Fahrradbrücke in Luxemburg wird viel genutzt
Die denkmalgeschützte Brücke verläuft rund 50 Meter hoch über einem Tal. Die Radfahrer sind aber nicht etwa auf der Brücke unterwegs, sondern unter ihr. Unter der mehr als hundert Jahren alten Steinbrücke ist ein Gang angebracht, auf dem Radfahrer das Tal überqueren können. „Zuerst haben die Denkmalschützer gesagt, dass so eine Konstruktion gar nicht möglich ist“, sagt Ex-Verkehrsminister Bausch. „Irre“ habe man ihn genannt. Letztlich habe es aber doch funktioniert – mit etwas Kreativität. Denn die Fahrradbrücke durfte auf keinen Fall dauerhaft mit der Originalbrücke verbunden sein. Und so hängt sie „nur“ an großen Stahlschrauben, die rein theoretisch jederzeit gelöst werden könnten. Menschen mit Höhenangst sollten nicht unbedingt über das Geländer nach unten schauen, sondern es machen wie die meisten Radfahrer: Einfach schnurstracks über den Highway.
Eine hundert Meter hohe Fahrradbrücke, kostenfreier Nahverkehr und multipel nutzbare Verkehrsstationen – in vielerlei Hinsicht ist Luxemburg schon auf dem Weg in eine Mobilität der Zukunft. Am Ziel ist es aber noch lange nicht. Der Ausbau des Busnetzes auf dem Land ist eine Mammutaufgabe, eine Verlängerung der Tram hin zum Flughafen hängt noch in der Schwebe. „Es gibt weiterhin viel zu tun“, sagt Wissenschaftler Gillard. Er findet, dass Mobilität noch breiter gedacht werden müsse. „Zum Beispiel spielt die Wohnungsbaupolitik eine große Rolle. Wenn immer mehr Wohnungen auf dem Land gebaut werden, ist das eher schwierig für eine Verkehrswende.“ Den Ideen scheinen in Luxemburg aber keine Grenzen gesetzt, gerne dürfen sie auch spektakulär sein. So wie der Fahrstuhl, der Menschen vom Stadtteil Pfaffenthal in die Oberstadt bringt. Aus dem Panoramafenster blickt François Bausch über die Stadt, rund 70 Meter befindet er sich über der Talsohle. Der Ex-Verkehrsminister wirkt, wie in der Standseilbahn, völlig entspannt. Ohne Ticket – und Höhenangst hat er ohnehin keine.
Dieser Text ist Teil der AZ-Sommerreihe „Lernen von den Nachbarn“. Alle weiteren Artikel finden Sie hier.