Bücherherbst, Leseherbst. Normalerweise hätte sich Robert Seethaler jetzt auf den Weg quer durch Deutschland und Österreich gemacht. Lesetour mit dem neuen Roman „Der letzte Satz“ über den liebes- und lebenskranken Komponisten Gustav Mahler. Aber weil gerade so wenig normal ist, bleibt Seethaler zu Hause. Halbleere Räume, keine Signiertische, die Vorstellung fand der österreichische Schriftsteller, der mit seiner Literatur spielend auch große Säle füllen kann, doch eher deprimierend. Wer Seethaler hören und sehen will, der kann das dennoch. Zu den wenigen Ausnahmen, die er gemacht hat, zählt die Lesung beim Göttinger Literaturherbst. Dort also wird er auftreten – mit Abstand wie das ganze Publikum. Und ziemlich normal ist mittlerweile, was die Veranstalter außerdem ankündigen: „Literaturherbst ON AIR – das ist unsere Devise in diesem Jahr. Wir senden in alle Richtungen, lassen teilhaben, senken die Barrieren.“
Heidenreich und Co vom Sofa aus erleben
Seethaler, Grossman, Heidenreich … noch nie jedenfalls konnte man es sich als Literaturmensch so bequem machen wie in diesem so gar nicht normalen Bücherherbst. Nicht mal zur Frankfurter Buchmesse muss man fahren. Die findet zwar statt, jedoch als „Special Edition“, was normalerweise gewisse Exklusivität verspricht. Es ist aber genau andersherum. Nicht nur Fachbesucher, sondern jedermann kann diesmal von Anfang an zumindest am Bildschirm dabei sein. An fünf Tagen überträgt das ARD-Studio aus der Festhalle sein Programm – „kostenlos und weltweit empfangbar“. Das ZDF stellt sein Blaues Sofa in die Dependance von Bertelsmann in Berlin und empfängt dort Schriftsteller im Halbstundentakt. Aus München meldet sich das Literaturhaus mit den „Buchspitzen“, einem mehrtägigen Lesemarathon.
Klüpfel und Kobr entdecken das Digitale
Dem Leser wird also auch in diesem Herbst ein Literaturspektakel geboten. Er erwartet es auch gar nicht mehr anders. Ein Paradox nämlich seit Jahren: Die Zahl der Buchkäufer mag sinken, die Zahl der Lesungen und Festivals steigt. Weil zum einen das Bedürfnis der Literaturfans wächst, nicht mehr nur Buch, sondern auch den Verfasser kennenzulernen: Wer schreibt denn da? Wie liest der oder die? Was erzählt er oder sie noch? Und weil zum anderen, für immer mehr Autoren die Lesetour samt Selbstvermarktung in den sozialen Medien zum Berufsprofil quasi dazugehört, die Abende vor Publikum sich zu einer der wichtigsten Einnahmequellen entwickelt haben, oft noch vor den Buch-Erlösen.
Man kommt sich also immer näher – Autor und Leser. Insofern ist es fast nur logisch, dass in diesen Zeiten, in denen viele Buchhandlungen ihre Lesungen absagen müssen, weil nicht genug Platz zum Abstand halten ist, in denen Termine und Gagen wegbrechen, die Schriftsteller via Bildschirm gleich zu Hause erscheinen … zum Beispiel in Thaleischweiler-Fröschen, Zürich oder Attleborough. Da sitzen jedenfalls am letzten kalten Septemberabend drei der über 430 Zuschauer, die bei der Premiere des neuen Kluftinger-Krimis live dabei sein wollen. Im Chat grüßen sich die Fans, auch Ivanhoe aus dem Schwarzwald ist dabei. Dann auf dem Bildschirm, Viertel nach acht Uhr, Volker Klüpfel und Michael Kobr, besprühen sich erst einmal mit Desinfektionsspray. „Wann rasiert sich Volker mal wieder“, will eine Leserin wissen, eine andere schreibt: „Michael ist der Attraktivere von euch beiden.“ Alles nur Spaß natürlich, wie das Ganze überhaupt ein ganz großer ist.
Chatbeitrag zum Kluftinger-Duo: "Waldorf und Stadler aus Bayern"
Die beiden sind ein eingespieltes Team – Chatbeitrag: „Waldorf und Stadler aus Bayern“ –, immer offen für die nächste schräge Idee. Im Sommer lasen sie im Autokino, ausprobieren, was geht. Gehupt werden durfte wegen der Lärmschutzverordnung nicht. Manchmal hörten sie zumindest Lacher. „Die kamen aus den weniger gut isolierten Autos, vermutlich Japaner … “ Kleiner Scherz von Volker Klüpfel dann am Telefon. Während des Lockdowns lasen die beiden täglich live zehn Minuten, gesendet auf Youtube: „Aber wir haben irgendwann gesagt, wir müssen damit aufhören, das ist ein schlechtes Zeichen für unsere Veranstalter, wenn wir alles kostenlos senden.“
Nun also eine mehrfache Premiere: von „Funkenmord“, dem neuen Krimi um den Allgäu-Kommissar, erstmals gesendet aus einem Studio in Augsburg, das Ticket für 9,90 Euro. Die beiden lesen, plaudern, witzeln, beantworten Fragen aus dem Chat, halten falls gewünscht auch mal ihre Füße in die Höhe. Für den Applaus gibt es einen Button. „Lachmichwech“, schreibt einer im Chat, der nächste fragt: „Online-Lesung, warum seid ihr erst jetzt draufgekommen“. Ein Erfolg somit, oder aber, wie die beiden sich bedanken: „Die bestmögliche Buchpremiere unter diesen Umständen“. Und bestes Beispiel dafür, dass Autor und Leser auch in Corona-Zeiten zusammenfinden. „Es entstehen gerade überall neue Formate“, sagt Christina Knecht vom Hanser-Verlag, während der Buchmesse zum Beispiel das digitale Programm der Münchner Verlage www.buchmesse-daheim.de. Der Suhrkamp-Verlag bedankte sich dieser Tage per Mail bei den Veranstaltern: „Danke – für das Dranbleiben, Durchhalten, Umorganisieren und Neudenken. Unsere Autorinnen und Autoren (und auch wir) wissen dies zu schätzen und freuen sich über jede Lesung, die analog, Open Air, digital oder hybrid stattfinden konnte.“
Plötzlich nehmen Leser in Kanada an der Lesung in München teil
Hybrid, das ist das Modell, das man im Literaturhaus in München seit Juli versucht. Über 300 Zuschauer fasst der große Saal. Normalerweise. In der Vergangenheit reichten gelegentlich selbst die nicht aus. Den Auftritt des Norwegers Karl Ove Knausgard zum Beispiel verlegte man deswegen in den Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität. Literatur als Event, obwohl der Auftritt nach dem klassischen Muster der sogenannten Wasserglaslesung verlief: Lesen, reden, lesen … „Ich finde nicht, dass der Tiger immer durch den brennenden Reifen springen muss“, sagt Marion Bösker vom Literaturhaus, sprich: Die Literatur allein ist schon toller Tiger genug, vor allem natürlich, wenn da ein Star wie Knausgard sitzt: Zurückhaltend, fast scheu, der Moderator neben ihm sympathisch nervös, einmal so berührt, dass er schlucken muss. Und über 1000 Menschen im Saal „on the same page“, was im Englischen soviel bedeutet, wie auf der gleichen Wellenlänge sein. Was für ein Abend …
Nun sind nur noch 50 Zuschauer erlaubt, dafür steht im Saal eine große LED-Wand. Fünf Euro kostet die Karte für die Zuhausegebliebenen. Eine Lösung aus der Not heraus, aber festgestellt hat man im Literaturhaus, dass man nun Leser in ganz Deutschland und der Welt erreicht. Auch in Kanada oder Island hört und sieht man live mit, wenn beispielsweise die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk liest. „Es gibt Zuschauer, die sich bedanken, weil sie zur Risikogruppe gehören und sonst nicht dabei wären“, sagt Marion Bösker. Beim Abend mit David Grossman, für den Hanser eigentlich eine große Lesetour geplant hatte, war es dann so: Zuschauer im Saal, Zuschauer vor den Bildschirmen, Grossman wurde fürs Gespräch aus Israel zugeschaltet. Hauptsache, man kommt irgendwie zusammen. Bis Ende des Jahres will man nun am Hybridmodell festhalten, dann wird man sehen.
Denn trotz aller Begeisterung – natürlich fehlt etwas. „Der Manegendampf“, wie es Bösker nennt. Das gemeinsame Erleben. Sie haben hier im Literaturhaus normalerweise auch Abende, da bringen die Autoren ihre Lieblingsmusik mit, dann wird auch gemeinsam Cocktail getrunken. Da wird nicht nur die Literatur, sondern mit Literatur gefeiert. Geht nicht im Moment. Wie auch das Signieren. Das kleine private Gespräch am Rande. Nicht jeder Zuschauer, nicht jeder Autor mag sich daher mit der digitalen Alternative gleichermaßen anfreunden. Ingo Schulze zum Beispiel …
Ingo Schulze fehlt die Rückkoppelung mit den Lesern
Im März kurz vor dem Lockdown erschien sein Roman „Die rechtschaffenen Mörder“. Das Buch stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Auf seiner Website kann man noch den Plan der Lesetour sehen, rund 40 Mal steht dahinter: „fällt aus“.
Er las dann beispielsweise am Schreibtisch seiner Frau, gefilmt von seiner Tochter. Oder im leeren Literaturhaus Hannover, vor ihm die Kameras. Schulze vergleicht Online-Lesungen mit Trailern im Kino – bestenfalls also Appetitmacher. Er vermisse dabei die Rückkoppelung mit den Lesern, die Fragen, durch die man sein Buch noch einmal anders kennenlerne, den Echoraum. Davon abgesehen: „Ich lese besser vor Publikum“, sagt Ingo Schulze.
Autor – Buch – Leser, den Zuschauern bei der „Funkenmord“-Premiere fehlt dann nur eines, das Mittelstück. Die Frage des Abends: Wie bekomme ich ein signiertes Exemplar?
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