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Interview: Psychotherapeut: "Ich fürchte, uns erwartet eine zweite Pandemie"

Interview

Psychotherapeut: "Ich fürchte, uns erwartet eine zweite Pandemie"

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    Die Nacht bewacht: Polizisten kontrollieren die Ausgangssperre.
    Die Nacht bewacht: Polizisten kontrollieren die Ausgangssperre. Foto: Robert Michael, dpa

    Herr Molina, bemerken Sie seit Beginn der Pandemie eine erhöhte Anfrage in Ihrer Praxis?

    Rubén Molina: Ja, das ist sehr deutlich spürbar. Nicht nur bei mir und Kollegen mit eigenen Praxen, sondern auch in den Kliniken sind die Anfragen gestiegen. Genaue Zahlen gibt es dazu nicht. Ich kann allerdings von mir sagen, dass ich aktuell meine Öffnungszeiten erweitern musste, um den erhöhten Anfragen gerecht werden zu können. Und auch Psychiatrien sind überfüllt, da ist leider nicht mehr viel Spielraum für neue Patienten. Es ist natürlich immer so, dass die Anfragen in den kalten und dunklen Wintermonaten steigen, aber das ist kein Vergleich zu jetzt.

    "Das Nachtleben dient der Erfüllung unserer psychischen Bedürfnisse"

    Wie bewerten Sie aus psychologischer Sicht die Auswirkungen, die das Nachtleben auf die Menschen hat?

    Molina: Das Nachtleben ist wichtiger, als viele denken. Es dient der Erfüllung unserer psychischen Bedürfnisse. Überspitzt dargestellt, dürfen wir im Moment alles machen, was Stress erzeugt, und alles, was Spaß macht, ist verboten. Wir können also den Dauerstress schwer kompensieren. Auf einer Fortbildung wurde dieses Konzept mit einem Beutel verdeutlicht, in den immer mehr Wasser gegossen wird, das für Stressoren wie Ärger in der Arbeit oder mit der Familie steht. Irgendwann läuft der Beutel über, weil einfach zu viel Wasser darin ist. Wenn man aber unten mit einer Schere ein Loch hineinschneidet, bleibt der Wasserpegel gleich. Die Schere steht hier für Hobbys, Sport und besonders das Zusammensein mit Freunden. Und im Moment fehlt uns diese Schere, die den Stresspegel auf einem erträglichen Niveau hält.

    Rubén Molina ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Augsburg. Er befürchtet, dass die Maßnahmen zur Eindämmnung der Corona-Pandemie eine Welle an psychischen Erkrankungen auslösen könnten.
    Rubén Molina ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Augsburg. Er befürchtet, dass die Maßnahmen zur Eindämmnung der Corona-Pandemie eine Welle an psychischen Erkrankungen auslösen könnten. Foto: Rubén Molina

    Welche Folgen kann das haben?

    Molina: Zum einen ist es nicht zu verleugnen, dass trotz der Beschränkungen ein Nachtleben stattfindet. Nur eben im Verborgenen, was wiederum stark mit Schuldgefühlen bei den Betroffenen verknüpft ist. Sie wissen, dass ihr Handeln Konsequenzen haben kann, und haben Angst davor, erwischt oder von anderen verurteilt zu werden. Das ist ein Problem. Psychische Schutzmechanismen wie Bagatellisierung der Situation oder Schuldverschiebungen entstehen, um diesen Handeln zu rechtfertigen. Zum anderen bekomme ich von vielen meiner Patienten die Rückmeldung, dass sie ihr Zeitgefühl verlieren. Außerdem besteht die Gefahr der chronischen Einsamkeit. Ich habe die Befürchtung, und ich hoffe sehr, dass ich falsch liege, dass die Corona-Pandemie eine zweite Pandemie auslöst, und zwar mit psychischen Erkrankungen - das wird dann schleichender ablaufen und uns nicht so ins Gesicht schlagen wie Corona.

    Welche Zeichen deuten darauf hin, dass man sich Hilfe suchen sollte?

    Molina: Es geht um zwei Faktoren: Ausmaß und Dauer der Probleme. Wenn man sich hin und wieder einsam oder traurig fühlt, ist das normal. Sogar gelegentliche Selbstmordvorstellungen sind noch im Rahmen. Jeder kennt diese Gedanken, wenn man besonders viel Stress hat oder anderweitig unter Druck steht. Zum Problem wird das Ganze, wenn sich die Anzeichen häufen und man nicht nur antriebslos ist, sondern beispielsweise auch die Interessen und den Appetit verliert. Dazu kommt dann die Dauer: Ein bis zwei Wochen Verzweiflung zu spüren ist okay, aber wenn es auch nach einem Monat nicht besser wird, sollte man aktiv werden.

    "Besonders abends nehmen die Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein überhand"

    Gibt es ein Symptom, das besonders problematisch ist?

    Molina: Eine Sache, die ich im Auge behalte, ist das Thema Einsamkeit. Hier kommen wir auch zurück zum Nachtleben. Denn besonders abends nehmen die Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein überhand, da wäre es entsprechend auch wichtig, sich mit anderen treffen zu können. Einsamkeit ist keine rein mentale, sondern auch eine körperliche Empfindung wie Hunger. Sie soll uns den Hinweis geben, dass etwas Lebenswichtiges fehlt. Und wenn ich das fühle, wird es problematisch. Denn chronische Einsamkeit hat unter anderem den Nebeneffekt, dass sie das Immunsystem schwächt und uns sogar anfälliger zum Beispiel für Krebs und Organerkrankungen macht. Einsamkeit kann selbstaufrechterhaltend werden, indem kognitive Verzerrungen entstehen. Ein Beispiel dafür wäre, dass wir die Absage eines Freundes für ein Telefonat systematisch zunehmend auf uns selbst beziehen, sodass wir uns in der Einsamkeit bestätigt sehen. Dadurch kapseln wir uns weiter ab.

    Ersatzstrategien für die fehlenden Treffen mit Freunden und Familien

    Was können wir selbst tun, wenn wir merken, dass unsere Stimmung sich zunehmend verschlechtert?

    Molina: Das ist schwierig, denn gerade depressiven Patienten rate ich dazu, rauszugehen und sich mit anderen zu treffen. Es ist natürlich berechtigt, dass das gerade verboten ist, aber es ist eben auch das, was die Leute gesund hält. Eine Ersatzstrategie wäre ein Videochat mit Freunden und Familie. Das ist natürlich nicht das gleiche, aber besser als nichts. Einer Patientin habe ich außerdem vorgeschlagen, dreimal pro Woche joggen zu gehen. Das hat sie vorher nicht gemacht, aber es bringt eine Struktur in die Woche und ist außerdem etwas Neues, was den notwendigen Stressausgleich schaffen kann. Auch Online-Spiele, die man zusammen mit anderen spielen kann, können helfen, sind aber mit Vorsicht zu genießen – Stichwort steigender Medienkonsum.

    Gibt es Präventivmaßnahmen, die wir alle für uns treffen können?

    Molina: Der wichtigste Punkt, den ich meinen Patienten schon im März letzten Jahres ans Herz gelegt habe, ist der, dass es jetzt nicht darum geht, besser zu werden. Jetzt ist nicht die Zeit, Probleme zu lösen, sondern auf einem psychisch einigermaßen stabilen Niveau zu bleiben. Wenn wir das schaffen, ist das schon ein Erfolg. Ich beobachte außerdem, dass besonders unter Kindern und Jugendlichen die unausgesprochene Erwartung herrscht, dass alle genauso zu funktionieren haben wie vor der Pandemie. Das sorgt für enormen Stress, weil alle versuchen, so gut zu sein wie vorher. Aber das ist im Moment nicht machbar. Es geht darum, das zu machen, was man schafft. Und wenn man etwas nicht schafft, dann ist es auch ok. Unter diesem Gesichtspunkt konnte ich auch die Entscheidung, die Schulferien zu streichen, absolut nicht nachvollziehen. Das ist für niemanden förderlich, im Gegenteil: Zahlreiche Studien belegen, dass die Menschen im Homeoffice mehr arbeiten, weil sie sich jederzeit einloggen können und eher auf Pausen verzichten.

    Was die psychischen Belastungen betrifft, ist die Jugend eine Risikogruppe

    Wer ist besonders von dem fehlenden Nachtleben betroffen, wer leidet am stärksten?

    Molina: Es herrscht die Annahme, dass die junge Bevölkerung flexibler sei als die ältere und eher mit der Situation zurechtkomme. Das ist aber ein Trugschluss. Natürlich ist das junge Gehirn anpassungsfähiger, aber entwicklungstechnisch gesehen steht es noch vor der Herausforderung, eine emotionale Reife zu erreichen. Die meisten psychischen Störungen beginnen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Vor der Pandemie waren rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen von psychischen Auffälligkeiten betroffen, nach dem ersten Lockdown waren es schon 31 Prozent. Auf die psychische Belastung bezogen ist das also eine Risikogruppe.

    Worauf können wir bei unseren Mitmenschen achten?

    Molina: Bevor wir überhaupt in der Lage sind, empathisch auf andere achten zu können, müssen wir dafür sorgen, dass es uns selbst gut geht. Das rate ich auch Eltern. Denn wenn es uns selbst schlecht geht, sind wir nicht fähig, uns mit den Problemen anderer Leute zu befassen oder diese überhaupt zu erkennen, das ist ein Selbstschutzmechanismus. Es liegt nicht daran, dass man es nicht versucht. Und dann kann man schauen, ob sich Verhaltensauffälligkeiten häufen, ob der andere oft niedergeschlagen ist und sich zurückzieht. Bei Kindern sollte man nicht kompromisslos darauf bestehen, dass sie alle ihre Hausaufgaben erledigen, wenn es nicht geht.

    Wo bekommt man Hilfe?

    Molina: Es gibt viele Beratungsangebote, zum Beispiel von pro familia oder dem Kinderschutzbund, bis zu einem gewissen Grad kann auch das Jugendamt vermitteln, wobei das ja aktuell mehr als ausgelastet ist. Der nächste Schritt wäre der Gang zum Psychotherapeuten oder Psychiater. Hier kann zum Beispiel die KVB hilfreich sein. Sie verfügt über eine Therapeutenvermittlungsstelle. In der Praxis wird dann abgeschätzt, wie hoch der Leidensdruck ist und wie oft Treffen notwendig sind. Ich habe beispielsweise Krisenfälle, die ich unbedingt jede Woche sehen will. Andere halten sich gut, da reicht es dann auch mal alle zwei bis drei Wochen.

    Zur Person: Rubén Molina, 37, studierte Diplom-Pädagogik und Klinische Psychologie in Eichstätt. Von 2010 bis 2016 arbeitete er mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen. Seit 2016 ist er als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis in Augsburg aktiv.

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