Einmal noch, einmal noch kommen wir nicht umhin – will man diese merkwürdigen Monate, diese weitgehend stillgelegten Wochen, dieses Land in Zeitlupe fassen –, vom Klopapier zu sprechen. Denn es war nun mal anfangs der symbolische Kristallisationspunkt der Krise, und es muss in Zeiten höchster Not und größten Mangels geschehen sein, dass deutsche Supermarktketten dazu übergingen, im Ausland große Chargen zu ordern. Die Folge: Ein gedankenloser Fehlgriff zur fremdländisch beschrifteten Packung, und im Haus riecht es – profumato! – plötzlich wie in einer Ferienwohnung in Jesolo.
Was einem das sagen soll? Vieles.
Denn irgendwie stimmt das Bild, und vorweg, bevor es also um das gehen soll, was das denn eigentlich war, was denn da alles passierte in Zeiten des Ausnahmezustands und ob davon irgendetwas bleiben wird, erst einmal ein Selbstbekenntnis: Dieser Text entsteht gerade mit Blick auf den Garten, in dem es momentan zwar regnet, aber in den Wochen zuvor – Homeoffice, Kurzarbeit und Klimawandel sei’s gedankt – recht menschenwürdig auszuhalten war. Selten jedenfalls zuvor jemals im April, einem so traumhaften noch dazu, rechtzeitig aus dem Büro gekommen, um noch in der Sonne unter Apfel- und Fliederblüten sein Feierabendbier zu trinken – fast schon der Hauch von Ferien eben, und mit anderen Worten: Es ist eine ziemlich privilegierte Situation, von der aus da geschrieben, von der aus da auf Gesellschaft geblickt wird. Das sollte man nie vergessen, und nur so lässt sich erklären, was in diesen zurückliegenden Wochen und Monaten – neben den täglichen Wasserstandsmeldungen, Fallzahlen, Corona-News – sonst noch so alles auf dem Markt der öffentlichen Meinung zu finden war.
Es gibt sie noch, die guten Dinge. Nur halt nicht für jeden
Vom Lockdown als große Chance zur Entschleunigung war da beispielsweise die Rede, von der Rückbesinnung auf das, was wirklich wichtig ist (Familie, Kniffelspielen, „Tagesschau“), selbst der Sex sollte angeblich plötzlich wieder intensiver sein („Erna, wir ham doch jetzt Zeit!“) – und nachhaltig alles zusammen sowieso. Es waren Texte wie aus dem Manufactum-Katalog, und bestimmt: Es gibt sie noch, die guten Dinge. Nur halt nicht für jeden.
Die Zeit lässt ihre Leserinnen und Leser seit ein paar Jahren online täglich darüber abstimmen, wie so das Befinden ist. Der Befund: Als das öffentliche Leben schrittweise heruntergefahren wurde, ging es damit stetig bergauf. „Die Stimmung ist besser als normalerweise an einem Montag“, „Die Stimmung ist viel besser als normalerweise an einem Dienstag“, „Die Stimmung ist …“ – natürlich nicht repräsentativ. Denn man muss nun kein Markt- oder Medienforscher sein, um zu ahnen, dass da vor allem ein bestimmtes Milieu klickt. Ein Milieu, das höchstwahrscheinlich nicht an der Supermarktkasse oder im Lastwagen sitzt, sondern im Homeoffice, ein Milieu, das keine allzu großen Existenzsorgen hat und kein Klopapier gehamstert, ein Milieu, das darob (und nicht nur über den künstlichen Duftstoff, vergreift man sich mal) eher die Nase rümpft.
Es ist auch größtenteils ein Milieu, das sozial und international eng vernetzt, das normalerweise einer strikten Taktung unterworfen ist (oder besser: sich unterwirft) – und deshalb umso gelöster reagiert, wenn plötzlich von diesem Zwang enthoben. „Mittagessen mit V., Abendessen mit den Yogafreundinnen, Stadtrundfahrt mit einem Schulfreund, der nach Berlin kommt und den ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe, Berufsberatung mit M., Ausflug ins neue Wellenbad: gestrichen“, erleichtert sich den auch die Autorin Heike Faller in ebendieser Zeit, und resümiert: „Ich muss gar nichts.“
Das trifft bestimmt ein Lebensgefühl, auch das, das sich wie erwähnt hier im Garten zeitweise eingestellt hat. Diese Zwangsabschaltung, dieses das dauergestresste Gemüt Runter- und dafür beispielsweise den Herd Hochdimmen, Corona-Cooking (Onlineportale waren voll mit entsprechenden Rezepttipps für die To-go-Generation), Kochen fürs Karma. Doch das trifft natürlich beileibe nicht alle, und im Grunde trifft es vielleicht auch gar nicht.
Denn die Rede vom neuerlichen, pandemischen Biedermeier geht ja schon insofern fehl, als dass sich die Menschen gleichwohl weiter entäußerten, etwa plötzlich zu abendlichen Video-Telefonaten verabredeten, selbst wenn man sich vor Beginn der Kontaktbeschränkungen auch nicht unbedingt regelmäßig gesehen hat. Dann aber: Ausnahmezustand, Solidarität, Erinnerung an einen Kommilitonen von vor zig Jahren, a bisserl Wärme via Vodafone, #stayathome.
Es gibt auch „eine neue Form der Not“
Es trifft auch deswegen nicht, weil viele und selbst diejenigen, die vielleicht vor der Krise noch am lautesten „Work-Life-Balance“, mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefordert haben, nach ein paar Wochen des Homeoffice, Homeschoolings, Homesittings oder schlicht Aufeinanderhockens, schwer entnervt den Löffel in die Tomatensauce klatschten. Und es trifft vor allem deswegen nicht, weil es ziemlich viele wie gesagt gar nicht betrifft.
Die Hunderttausenden in Pflegeheimen, die keine Angehörigen mehr sehen konnten – Entschleunigung? Und wer kein Haus in der Vorstadt, wenigstens eine schick-geräumige Altbauwohnung hat, stattdessen in drei Zimmern/Küche/Bad mit ebenso vielen Kindern wohnt, jeden Cent umdrehen muss, der wird kaum glücklich darüber gewesen sein, dass er nun nichts mehr vermissen muss. Vermissen missen können, das kann nur der, der hat.
Laut einer repräsentativen Umfrage kamen 17 Millionen Deutsche während des Lockdowns in finanzielle Nöte. Mittlerweile, nach der schrittweisen Aufhebung der Beschränkungen, sind es immer noch 14 Millionen. Die Hälfte der Selbstständigen hatte massive Einbußen zu verzeichnen, 7,3 Millionen Menschen waren im Mai in Kurzarbeit, derweil die Schlangen an den Tafeln länger werden. Jochen Brühl, Vorsitzender von Tafel Deutschland, sprach diese Woche von einer „neuen Form der Not“, von jungen Menschen, die zuvor nie auf Hilfe angewiesen waren „und nun vor Erleichterung weinen, weil sie etwas zu essen bekommen und ihren Kühlschrank wieder füllen können“.
Kein Zweifel: Ein großer Gleichmacher war die Krise lediglich zu Beginn aufgrund der allumfassenden Betroffenheit durch diese noch unbekannte Bedrohung, und in manchem mag das – zusätzlich befeuert von irgendwelchen Balkonkonzerten – romantische Gefühle von Gemeinschaft heraufbeschworen haben. So sang auch der Zukunftsforscher Matthias Horx in einem vielfach geteilten Beitrag Mitte März das Hohelied der Achtsamkeit, der gesellschaftlichen Solidarität, der neuen Verbindlichkeit, die laut seiner Prognose auch nach Corona Bestand haben werden: „Wir staunen rückwärts, wie viel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist.“ Wahrscheinlich hatte er dabei nicht den Blockwart von schräg gegenüber vor Augen, der jedes fremde Kfz-Kennzeichen sofort an die Polizei kabelte.
Keine Witzchen im Plexiglaskasten
Nein, wahrscheinlich liegt da eher der Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald richtig, wenn er betont, dass nach der anfänglichen Geschlossenheit in der Krise die gesellschaftlichen „Gräben, die ohnehin schon da waren, noch deutlicher hervortreten“. Gerade während des Lockdowns sei es zu einer enormen „Spreizung der Lebenswirklichkeit“ gekommen – auf der einen Seite also das gemütliche Garen des Grillgemüses im heimischen Garten, auf der anderen existenzielle Verunsicherung und auch Not.
Und jetzt? Was bleibt von alldem, von dieser seltsam stillgelegten Zeit, die gleichwohl so weit schon wieder hinter uns zu liegen scheint und wir nun irgendwo dazwischen sind – zwischen verordneter Vollbremsung und alt-neuer Normalität, die Maske im Gesicht und irgendwie müde und gereizt zugleich? Denn das ist ja so ein bisschen die Stimmung, und selbst der sonst stets so gut gelaunte Supermarktkassierer macht aus seinem Plexiglaskasten keine Witzchen mehr. Was bleibt also? Die Sehnsucht nach leeren Straßen? Waren und Menschen müssen halt wieder wo hin. Nach ruhigen Innenstädten? Die Angestellten im Einzelhandel werden sich bedanken. Nach einem abendlichen Spritz auf Skype? Die Videokonferenzen im Büro reichen schon.
So wie immer weniger an eine zweite Welle glauben, glaubt wohl kaum einer mehr, dass sich etwas wirklich nachhaltig verändern wird. Und vorher ist ohnehin Konsum die erste Bürgerpflicht. Bevor sie kommen mag, die zweite Welle, also unbedingt Waschmaschinen kaufen! Und – natürlich, wir hatten es davon – Klopapier. Denn aufgrund der Hamsterkäufe und zeitweisen Schließung von Hotel- und Gastgewerbe hat die Branche, die anfangs wie der große Krisengewinnler aussah, Umsatzrückgänge von bis zu 30 Prozent zu verzeichnen. Auch hier gibt es wie in vielen anderen Betrieben Kurzarbeit, auch hier gilt jetzt also: Shoppen und dings …
Zumindest, wenn wir wollen, dass alles wieder so wird wie zuvor. Aber wollen wir das? Rolle rückwärts? Wir sind schon mittendrin. Und die Frage müsste zudem eher lauten: Haben wir, unter den gegenwärtigen Bedingungen, überhaupt eine Wahl?
Hier, mit Blick auf den Garten und wo nicht nur wegen des Regens die Erinnerung an die stillen Wochen allmählich verschwimmt, ganz ehrlich sehr schwer zu beantworten.