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Gesellschaft: Leid, Sex, Tod: Was lehrt uns Corona über unseren Körper?

Gesellschaft

Leid, Sex, Tod: Was lehrt uns Corona über unseren Körper?

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    Unser Körper: Steht mit Corona im Spannungsfeld seiner Extreme, zwischen Sterblichkeit und Freiheit, der Mensch damit zwischen Angst und Wut.
    Unser Körper: Steht mit Corona im Spannungsfeld seiner Extreme, zwischen Sterblichkeit und Freiheit, der Mensch damit zwischen Angst und Wut. Foto: stock.adobe.com

    Zu Beginn mal ganz nüchtern: Was schätzen Sie, welches war das Jahr, in dem zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen an individuellen Krisen wie Herzversagen oder Schlaganfall gestorben sind als an Infektionskrankheiten wie Pest oder Grippe?

    Denn emotional wird dieses Thema derzeit ja von ganz allein: Gesundheit. Unser Körper: Steht mit Corona im Spannungsfeld seiner Extreme, zwischen Sterblichkeit und Freiheit, der Mensch damit zwischen Angst und Wut. Und es wird existenziell, selbst wenn es gar nicht direkt um das Virus geht.

    Da gibt es tragische Geschichten wie die eines Rentners aus unserer Region, dessen 90-jährige Mutter im alten Zuhause in Österreich von allen bestaunt wurde wegen ihrer Quicklebendigkeit, ihrer Wachheit, die sie im täglichen Rhythmus der Treffen und Besuche zeigte. Bis der Shutdown kam. Und auch der Sohn nicht mehr kommen durfte. Niemand. Die Frau, nicht infiziert und gut versorgt, aber isoliert, baute Tag um Tag ab, ging regelrecht ein – und starb, nach nur drei Wochen. Wo endet da der Körper? Und welche Dimensionen hat da Gesundheit?

    Die Krise kann auch Schönes bewirken

    Aber diese Tiefe der Krisenphänomene kann auch positives Potenzial bedeuten. So wird uns ein Bestseller-Philosoph nicht nur sagen, was wir alles über die Bedeutung unseres Körpers durch Corona lernen können, über unsere Natur und für unser Leben – sondern auch, dass die Krise tatsächlich schon Schönes bewirkt habe, zum Beispiel mehr Gelassenheit und mehr Sex. Zwischen traurigem Tod und freudiger Libido auch noch … – bleiben wir also zunächst nüchtern.

    2011. Das war das Jahr jenes Meilensteines der Menschheitsgeschichte, das zeigte: „Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir in den meisten Fällen wegen unserer Lebensweise sterben. Eigentlich suchen wir selbst aus, wie wir sterben werden, allerdings ohne viel darüber nachzudenken.“ So beschreibt es Bill Bryson, eine Art Sachbuch-Weltstar, in seinem neuen Werk. Und man kann sich nun fragen und sollte vielleicht darüber nachdenken, ob dieses Zeitalter nun im zehnten Jahr bereits eine Delle bekommt oder gar einen Bruch erlebt mit einem womöglich richtungsweisenden Comeback Infektionskrankheiten.

    Aber vor allem muss man: staunen. Denn was der Amerikaner Bryson bereits im phänomenalen „Eine kurze Geschichte von fast allem“ mit Welt, Zeit und All vollbracht hat sowie im etwas drögeren „Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge“ mit der Entwicklung des Hausstandes, überträgt er nun auf „Eine kurze Geschichte des menschlichen Körpers“ (Goldmann, 672 S., 24 Euro): Er führt in Gesprächen mit führenden Experten den aktuellen Wissensstand vor. Und dann eben: staunen! Ja, auch darüber etwa, dass wir noch immer so behaart sind wie die uns nächsten Menschenaffen, bloß halt mit zarteren Haaren; oder darüber, dass ein einzelnes Menschengehirn die Kapazität hat, alle je produzierten digitalen Daten zu speichern; oder darüber, wie unser Kontakt zur Außenwelt eigentlich stattfindet: Unsere oberen Schichten sind abgestorben, „alles, was uns schön macht, ist tot. Wo Luft und Körper zusammentreffen, ist jeder von uns eine Leiche“; unser Sehen beinhaltet einen blinden Fleck im Gesichtsfeld, ist bis auf eine daumennagelgroße Fläche unscharf und durch die Verarbeitung der Reize zeitlich verzögert – aber wird immerzu aus dem Archiv unserer Erfahrungen vorausgreifend ergänzt.

    Was wir alles nicht über uns wissen

    Aber noch viel staunenswerter ist: Was wir alles nicht über unseren Körper wissen. Angefangen damit etwa, warum wir gähnen, warum wir weinen und warum wir als einzige Säugetiere durch Klappen in der Speiseröhre kopfüber essen können, aber darum auch viel leichter ersticken. Aber es geht auch so weit, dass Großteile des vermeintlich doch entschlüsselten menschlichen Genoms für uns noch immer Kauderwelsch sind, einst mal als „DNA-Schrott“ bezeichnet, heute als „dunkle DNA“, als so unbekannt gekennzeichnet wie die dunkle Energie und die dunkle Materie, die irgendwie im Kosmos sein müssen, wenn der denn so funktionieren soll, wie wir das bislang meinen. Die häufigsten Worte bei Bryson sind Rätsel und Wunder – wir sind uns selbst noch immer ein Universum aus beidem, wie es scheint.

    Und das betrifft auch das: „In jüngerer Zeit ging die Biologin Dana Willner von der San Diego State University der Frage nach, wie viele Viren in der Lunge eines gesunden Menschen vorkommen – ein Ort, von dem man glaubte, dort würden keine solchen Mikroben lauern. Willner fand heraus, dass ein Mensch im Durchschnitt 174 Virentypen beherbergt, 90 Prozent davon hat man noch nie zuvor gesehen…“

    So wird mit diesem Buch einer von zwei Widersprüchen aufgedeckt, die auch aktuell die Corona-Debatten verschärfen. Dass uns die Wissenschaftler nicht einfach die Wahrheit sagen und sich teilweise auch widersprechen, liegt an etwas, das Mensch, Medien und Gesellschaft heute nur noch sehr begrenzt aushalten können und doch all unser Sein durchdringt: Ungewissheit und Unsicherheit. Und das, wo wir im Datenzeitalter doch schon mit einem Tracker am Armgelenk unseren Körper umfassend vermessen und kontrollieren können!

    Das führt auch zum zweiten Widerspruch. Denn Corona ist mit seinem plötzlich umfassend drohenden Leiden und Sterben mitten hineingeplatzt in etwas, das der Historiker Jürgen Martschukat bereits im Titel seines Buches „Das Zeitalter der Fitness“ (S. Fischer, 352 S., 25 Euro) nennt. Das Kennzeichen dieser neuen Körperära: Wer treibt noch Sport um des Spiels oder Spaßes willen? Die rund 18 Millionen Mitglieder von Fitnessklubs in Deutschland sind über ein Drittel mehr als die in den Fußballvereinen. Und Fitness – das klingt ja nicht von ungefähr nach Anpassung (bei Darwin heißt das Evolutionsprinzip: „Survival of the Fittest“).

    Es ist der Zug der Zeit, den Körper zu drillen und schlank und leistungsfähig zu gestalten – ein Produkt, das ebenso nicht von ungefähr durch wiederholte Bewegungen an Maschinen entsteht, mitunter tatsächlich in ehemaligen Industriehallen. Fit ist die Norm, die Tauglichkeit – wer dagegen weich, gemütlich und gar übergewichtig wirkt, steht unmittelbar im Ruch, undiszipliniert zu sein, strahlt quasi aus, dass ihm die Kontrolle über das eigene Leben fehlt. Denn selbst ohne die längst boomenden Schönheitsoperationen und vor aller am Horizont erscheinenden Perfektionierung des Erbguts ist der Körper zu etwas Gestaltbarem geworden: Das Bewusstsein bestimmt das Sein.

    Der Körper ist ein Fetisch der Warenwelt  

    Und der Weg führt in der Social-Media- und Selfie-Gesellschaft auch zu sich selbst, zum selbst optimierten Ich-Ideal. Vom Job bis zum Sex gelte, so Martschukat: „Im Zentrum der Fitness steht die Arbeit an sich und den eigenen Grenzen.“ Der Körper ist Fetisch, eigentlich privat und doch ein öffentliches Statement. Und nun plötzlich: Shutdown. Und plötzlich, nicht nur bei der 90-Jährigen: Gebrechlichkeit? Mit Corona jedenfalls erscheint der Körper nicht mehr als das rein daten- und leistungsoptimierte Produkt. Ein Fanal der Natur in der wiederkehrenden Bedrohung durch Infektionskrankheiten?

    Da kann der Bestseller-Philosoph verstehen helfen, zumal der auch schon als Seelsorger in einer Klinik gearbeitet und zuletzt das Buch „Von der Kraft der Berührung“ geschrieben hat. Also Wilhelm Schmid, aus Krumbach stammend, in Berlin lebend, inzwischen 67 und emeritierter Professor: Was lehrt uns Corona über unseren Körper? Aus dem Abstand zu anderen, aus Homeoffice und Homeschooling, verbunden nur noch über digitale Netze – was nehmen wir davon für die Zukunft mit?

    Schmid sagt: „Wir haben durch die Krise gelernt, dass wir auch im Zeitalter der Digitalisierung analoge Menschen sind und bleiben – mit einem Körper und mit körperlichen Bedürfnissen, anderen die Hand zu geben oder sie zu umarmen.“ Es brauche darum neben der Digitalisierung auch eine „Analogisierung unseres Lebens“, weil wir Wesen seien, die sich nur so lebendig fühlen könnten, also: „Wir sollten eine neue Wertschätzung dafür aus der Krise mit herausnehmen.“

    Das Erfreuliche an Corona: Wieder mehr Sex!

    Zugleich hätten wir gelernt, so der Philosoph, dass wir nach wie vor Natur in Natur sind, dass daran auch alle Selbstoptimierung nichts ändere. Und dass wir vor dieser Natur einen Respekt bewahren oder wiedererlernen müssten, weil sie auch Aspekte an sich habe, die nicht gut für uns sind und die wir durch deren Ausbeutung etwa für Wildtiermärkte beförderten: „Wir schaden uns damit selbst.“ Und wir könnten lernen: „Auch mit noch so viel Perfektionierung wird der Mensch die grundsätzliche Gebrechlichkeit nicht ausschalten können.“ Aber ob wir das auch tun, ein neues Körperbewusstsein entwickeln? „Das wäre wünschenswert, aber das wird nicht stattfinden“, sagt Schmid. Die Menschen würden so weitermachen wie vorher, im Großen und Ganzen ihre Verhaltensweisen nicht ändern.

    Positive Anzeichen sieht der Philosoph trotzdem. Und damit sind wir schließlich bei der Gelassenheit gelandet – und beim Sex. Schmid nämlich hat vor fünf Jahren ein Büchlein mit dem Titel „Sexout“ geschrieben, indem er beleuchtete, wieso bei aller Präsenz des Sexuellen, trotz Datingplattformen und Ähnlichem, nicht das Problem sei, dass es die Menschen übertreiben, sondern, „dass es zu viele untertreiben“: „Eine immens hohe Zahl von Paaren hat nach einigen Jahren des Zusammenlebens überhaupt keinen Sex mehr.“ Und Schmid sagt nun: „Da hat die Corona-Krise zur Folge gehabt, dass etliche Sexouts wieder rückgängig gemacht worden sind – ein sehr erfreuliches Resultat.“

    Er begründet den Befund auch in Deutschland mit deutlich gestiegenen Verkaufszahlen von Kondomen und Sexspielzeug. Schmid: „Grund kann nur sein, dass die Menschen jetzt erst entdeckt haben, wie viel an Selbstvertrauen und Gemeinschaftsgefühl der Sex produzieren kann. Und dazu brauchte es offenbar erst die Krise, die die Paare nötigte, mehr zu Hause und mehr zusammen zu sein.“ Entgegen den Erwartungen, dass die Scheidungsrate hochschnelle, sei eher passiert, dass Paare wieder zueinandergefunden hätten. Und noch ein erstaunlicher Befund, der vielleicht auch damit zusammenhängt: Eine Studie habe ermittelt, dass 70 Prozent der Deutschen durch die Krise glücklicher, zufriedener und gelassener geworden seien. Schmid: „Es scheint mir, dass wir als moderne Gesellschaft einen Zustand erreicht hatten, in dem viele den Eindruck hatten, nur noch im Hamsterrad zu laufen…“ Und aus dem kommt man vielleicht fit heraus, aber nicht gesund. „Corona“, sagt Schmid, „wirkt da wie ein Stoppsignal, eine Gelegenheit zur Besinnung.“

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