Ein vorläufiger Befund dieser Tage könnte lauten: Der Kalenderspruch vom zu pflanzenden Apfelbäumchen muss leider umgeschrieben werden. Denn wenn morgen die Welt unterginge, dann kauft sich der Mensch erst mal zwei Packungen Klopapier. Oder, mangels Verfügbarkeit, wenigstens ein paar Rollen Küchenkrepp (zur Not sogar chlorgebleicht).
Ist das verrückt? Ein Regress in eine frühkindlich-entwicklungspsychologische Phase? Der Versuch, Kontrollverlustängste – werde ich morgen noch genug zu essen haben? – ausgerechnet mittels eines als gerade noch angemessen erachteten, jedenfalls bis zum Jüngsten Tag reichenden Vorrats an Toilettenpapier zu kompensieren?
Mit dem Virus kommt auch die Panik näher
Man weiß es nicht genau. Aber man muss es wohl als irgendwie menschlich hinnehmen. Die conditio humana hat halt mindestens vier Lagen, und was man bei aller Unsicherheit, bei dem Bemühen zu verstehen, was derzeit passiert, festhalten muss: Es menschelt gerade wieder ganz gewaltig – wenn man so will im Guten wie im Schlechten. Wobei, und da fangen die Probleme an, man das ohnehin nicht so einfach trennen kann.
Denn wie wenig wurde beispielsweise, als dieses Virus, Corona, Sars-CoV-2, wie es nun offiziell heißt, noch weit weg war und ein Problem von vermeintlich irgendwelche obskuren Schuppentiere verspeisenden Chinesen, wie wenig wurde es da anfangs außerhalb der üblichen Expertenzirkel, Fachwelt als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen? Und um wie viele Male schneller breitete sich demgegenüber dann die Panik aus, als dieses Virus, Corona, Sars-CoV-2, plötzlich näher kam, schließlich hier war – Klopapierkauf und Klicken aller verfügbaren Liveticker inklusive? Was man jedenfalls aufs Neue sehen, im Ausnahmezustand erst eigentlich beobachten kann, ist ein uralter evolutionspsychologischer Mechanismus: Ohne die Fähigkeit, längst zum Alltag geronnene Gefahren wie etwa die anfangs zum Vergleich viel beschworene Grippe, wie die Risiken des Straßenverkehrs, wie überhaupt das Risiko zu sterben in der Regel erfolgreich zu verdrängen, wäre Leben bekanntlich kaum möglich. Dieser Faktor wird allerdings durch einen zweiten, nicht minder überlebenswichtigen ergänzt: Angst. Er kommt vor allem dann zum Tragen, wenn neuartige oder zumindest plötzliche, konkrete Gefahrenlagen auftauchen. Sei’s vormals der Säbelzahntiger, sei’s unlängst ein Sturmtief namens Sabine (erinnert sich noch jemand dran?) – der Mensch flüchtet, duckt sich weg, verrammelt das Haus, und das ist in solchen Fällen meistens auch durchaus angebracht. Und nun also Sars-CoV-2.
Beck: Moderne Gesellschaften schaffen sich ihre Gefahren selbst
Was kann der Einzelne gegen so etwas (außer Händewaschen, in die Ellenbeuge niesen, Menschen meiden) tun? Vor allem: Was Menschen, was ganze Gesellschaften? Was machen komplexe Systeme wie das unsere angesichts solch einer Bedrohungslage? Beziehungsweise: Was macht diese letztlich mit uns?
Unter den zur Beantwortung dieser Fragen zuständigen Soziologie scheint Ulrich Becks "Weltrisikogesellschaft" von 1998 auch für den gegenwärtigen Zustand erst einmal als treffende Überschrift zu taugen. Die Grundthese des Buches, letztlich eine Fortführung seines Klassikers "Risikogesellschaft" (1986): Moderne Gesellschaften schaffen sich ihre Gefahren selbst, und wo vormals Naturkatastrophen, Götter oder beides verheerend wirkten, sind wir es nun, sind es die Folgen der Industrialisierung, des lichten Fortschritts an sich, die ihre ureigenen Schatten werfen. In einer globalisierten Welt mit all ihren Verschränkungen, Verflechtungen und Wertschöpfungsketten, die mehrere Male die Erde umrunden – eben in einer entgrenzten "Weltrisikogesellschaft" – wundert es jedenfalls nicht, dass es lediglich drei Monate dauert, bis eine lokale Seuche zu einer weltweiten Pandemie wird.
Radikale Maßnahmen zur Eindämmung des Virus nicht realisierbar
Aber lässt sich das überhaupt hintergehen? Es ist zumindest zweifelhaft, dass sich so etwas wie Globalisierung rückabwickeln lässt, wie es jetzt schon manche hoffen oder fordern. Denn der Markt, sollte er sich denn irgendwann einmal erholen, reguliert sich in der Regel lediglich über den Preis, und dass dafür – alte Marx’sche Einsicht – auch gesellschaftliche Kosten anfallen, hat in Zeiten des Wachstums wenige gestört. Deswegen gehen auch die derzeit zu hörenden Vergleiche mit dem Klimawandel fehl: Denn die von ihm ausgehenden Gefahr wurde, ähnlich wie etwa das eingangs erwähnte Risiko im Straßenverkehr, bereits weitgehend internalisiert. Radikale Maßnahmen wie der jetzt praktizierte Shutdown zur Eindämmung von Corona sind – jedenfalls in demokratisch verfassten Gesellschaften – nicht realisierbar, auch wenn sich das Aktivisten wie Luisa Neubauer von Fridays for Future gerne wünschten. Stattdessen reagiert Gesellschaft darauf ähnlich wie bei einer Anpassungen der Straßenverkehrsordnung – in einem mal mehr, mal weniger mühevollen Aushandlungsprozess.
Luhmann: Gefahr wird in das Risiko übersetzt
Dass dieser langwierige Prozess momentan angesichts der Bekämpfung von Sars-CoV-2 auf die Länge einer zwölfminütigen Fernsehansprache zusammenzuschnurren scheint, hat mit dem derzeit noch merkwürdigen Zwitter-Status der virologischen Bedrohung zu tun: Halb unberechenbarer Säbelzahntiger, halb berechenbarer Schnupfen, muss Gesellschaft darauf erst einmal Antworten finden – und das unter enormen Zeitdruck. Der Soziologe Niklas Luhmann unterscheidet zwischen Gefahr und Risiko und stellt fest, dass erstere in modernen Gesellschaften immer nur als zweiteres verhandelt werden könne, soll heißen: (Externe) Gefahr wird in das Risiko übersetzt, damit umzugehen – und somit an Entscheidungen gekoppelt. Ein jeder trifft diese jeden Tag, etwa, wenn er bei Rot über die Ampel geht oder eben nicht, die meisten davon sind einem kaum bewusst, und doch zeigt schon das einfache Beispiel: Entscheidungen sind immer auf die Zukunft gerichtet – und damit in gewisser Weise unkalkulierbar (wer weiß schon, ob nicht doch plötzlich ein Auto kommt?).
Insofern ist Angela Merkels denkwürdiger Satz vom Mittwoch eine Binse: „Die Situation ist ernst, und sie ist offen“, trifft doch diese Ergebnisoffenheit bis zu einem gewissen Grad auf jede Situation zu. Und doch ist der Satz bemerkenswert, gerade in einer Situation wie dieser, die eben nicht wie jede andere sich darstellt. Denn normalerweise werden bei Entscheidungen die Bedingungen des Nichtwissens gewissermaßen verschleiert, wären sie doch ansonsten kaum zu treffen oder vermittelbar. Hier aber wird das Nichtwissen offensiv angesprochen, was angesichts der bislang dürftigen Datenlage – von der Mortalitätsrate bis hin zu den Symptomen von Covid-19 – ja auch doppelt zutrifft, und paradoxerweise erhöht aber in diesem Fall genau dieses Nichtwissen den Entscheidungsdruck, beziehungsweise besser: die Erwartungshaltung von Gesellschaft, dass eben Entscheidungen getroffen werden.
Die deutsche Regierung im Entscheidungszugzwang
Natürlich ist Politik dabei nach wie vor auf die Rückkopplung, auf kollektive Bindungen dieser Entscheidungen angewiesen, was – neben besagtem Nichtwissen – auch das schrittweise Vorgehen, die Eskalationsstufen der letzten Wochen erklärt: „Man hat uns allen vorgeworfen, dass wir zu viel reden, aber auch, dass wir zu wenig reden. Dass wir zu rigoros sind, und dann wieder, dass wir nicht streng genug sind“, so Italiens Regierungschef Giuseppe Conte, in dessen Land mittlerweile bekanntlich eine strikte Ausgangssperre herrscht. Dieser Schritt steht in Deutschland noch aus, und man darf davon ausgehen, dass es allein schon angesichts des Drucks weiter steil steigender Fallzahlen und ignorierend, dass verlässliche Aussagen über die Wirkung der bisherigen Maßnahmen erst in zwei Wochen getroffen werden können, dass es also allein schon im Sinne der Steigerungslogik eingeforderter Entscheidungen flächendeckend dazu kommen wird.
Es hat immer Auswirkungen, wie man sich verhält
Knapp 80 Prozent der Deutschen würden das laut einer nichtrepräsentativen Umfrage der Zeit sogar befürworten, doch was nun nach kollektiv um sich greifender Vernunft klingen könnte, fußt eher auf dem Misstrauen gegenüber anderen (das legen zumindest soziologische Studien zur Selbst- und Fremdeinschätzung nahe): Mitmenschen, vor deren unterstellter Unvernunft man qua politische Entscheidung geschützt werden will. Die Befragten agieren also als Betroffene, dabei sind Betroffene doch immer auch Entscheider (noch so eine Unterscheidung von Luhmann). Es hat eben immer Auswirkungen, wie man sich verhält, ob man sich an die empfohlenen Verhaltensregeln hält, welche Entscheidungen man trifft und dann zum Beispiel massenhaft Klopapier kauft aus der Annahme heraus, es würde sonst ein anderer tun, was leere Regale zur Folge hat (und Fotos davon) und, dass dann immer mehr so handeln undsoweiter...
Überhaupt ist der ganze Solidaritäts-Diskurs dieser Tage eher ein Alarmzeichen, wird doch bekanntlich umso mehr über das geredet, was eigentlich fehlt. Wenn jetzt jedenfalls vormalige Selbstverständlichkeiten (Einkaufen für ältere Mitbürger) gefeiert werden, verweist das eher auf eine gesellschaftliche Leerstelle – genauso wie die aus der Wand gerissenen Desinfektionsspender, das Wachpersonal, die Taschenkontrollen noch in den kleinsten Krankenhäusern auch hier in der Region. Und man darf gespannt sein, was noch alles folgt.
Das größte gesellschaftliche Experiment seit 75 Jahren
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin warnte bereits vor den drohenden gesellschaftlichen (und individuellen) Verwerfungen, während Jürgen Kaube in der FAZ auf das grundsätzliche Problem hinwies, dass es ohne soziale Kontakte dauerhaft gar keine Gesellschaft geben könne (besteht diese doch aus nichts anderem). So besehen befinden wir uns im größten gesellschaftlichen Experiment seit 75 Jahren, was – anders als die wirtschaftlichen Folgen – noch kaum realisiert wurde. Aber auch da gilt natürlich: Ausgang offen. Noch können wir es nicht wissen, und für eine ganze Weile werden wir uns daran gewöhnen und gleichwohl Entscheidungen treffen, mit anderen Worten: ins Risiko gehen müssen.
Wie das Land, die Welt danach sein wird? Auch das kann man nicht sagen. Ob wir etwas daraus gelernt haben werden? Steht auf einem anderen, zweilagigen Blatt.
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