Bevor es losgeht, eine kleine Bitte: Schließen Sie, wenn Sie diesen Absatz gelesen haben, kurz die Augen, stellen Sie sich eine Umarmung mit einem Ihnen sympathischen Menschen vor. Oder noch besser: Wenn Sie das Glück haben, jemanden neben sich oder gegenüber zu haben, den Sie gerade umarmen dürfen, können, wollen, und dieser das auch möchte, dann tun Sie dies bitte. In Pandemie-Zeiten, in denen von den allermeisten physischen Berührungen abgeraten wird, in denen wir wegen des Coronavirus weniger Körperkontakt zu anderen Menschen haben (dürfen), ist eine echte Umarmung besonders kostbar – man kann sie gar nicht oft genug spüren. Also los.
(Kurze Pause)
Warum diese kleine Übung so wichtig ist, das erfahren Sie etwas später in diesem Text. Normalerweise müsste sich jetzt aber schon ein warmes Gefühl in Ihnen breitmachen. Vielleicht verspüren Sie gerade auch Sehnsucht nach mehr Berührung, denn manchmal wird einem erst nach einem Verlust klar, was einem wichtig war.
Eine Umarmung kann so wenig und gleichzeitig so viel sein
Was genau bei einer Umarmung in unserem Körper geschieht, erklärt Professorin Beate Ditzen, Direktorin des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum in Heidelberg und Diplom-Psychologin: "Unser Körper hat ein bestimmtes Nervenfasersystem, das auf Berührung reagiert, unter anderem auf sanfte Berührung. Die sogenannten C-Fasern leiten Informationen an das Gehirn weiter, wo eine Berührung als positive Erfahrung, als ein Signal für Sicherheit und Schutz abgespeichert wurde." Als schönes Gefühl also. Und es schwingt nonverbal noch so viel mehr bei einer Berührung oder, in ihrer XXL-Version, einer Umarmung mit. Wir erfahren in Sekundenbruchteilen mehr über den anderen, ohne dabei auch nur ein Wort gesprochen zu haben: Wie fühlt sich die Person? Schwitzt sie? Ist sie aufgeregt? Wie fest ist die Umarmung? Wie riecht sie? Und ganz wichtige Info: Wir wissen durch die Verformung unserer Körperhülle, dass wir nicht allein in Zeit und Raum sind.
Eine Umarmung kann so wenig und gleichzeitig so viel sein. Ein flüchtiger wie intensiver Kontakt von Körpern, der Austausch von Informationen und die Überbrückung interindividueller Grenzen. Eine Umarmung kann Vertrautheit, Freundschaft, Zuneigung, Freude, Trost, Angst und Anerkennung signalisieren. Und sie ist ein weitverbreitetes Ritual. Wie die New York Times bereits 2009 feststellte, ist der "Hug" die am weitesten verbreitete Begrüßungsform, wenn amerikanische Teenager sich begegnen oder verabschieden. Auch diesseits des Atlantiks ist die Umarmung längst ein gängiges Begrüßungsmittel unter Freunden – seit ein paar Jahren auch gerne kombiniert mit angedeuteten Küsschen auf den Wangen. Erinnern Sie sich? Die sind ebenfalls zurzeit nicht ratsam. Also noch einmal kurz nachspüren – und weiter. Zur Kunst. Und einer schönen Geschichte aus Bremen.
Eine Ausstellung, die sich rund um das Thema Berührung dreht
Der Körperkontakt ist ein Thema, das sich durch die ganze Kunstgeschichte zieht. Dass es in vielen Bildern in der Sammlung des Paula-Modersohn-Becker-Museums in Bremen um Berührungen geht, ist Direktor Frank Schmidt aber erst im Zuge der Corona-Pandemie aufgefallen, als Berührungen plötzlich tabu waren und eine Ausstellung wegen des Reiseverbotes platzte. Also entstand die Idee für die Schau "Berührend – Annäherung an ein wesentliches Bedürfnis" (läuft bis 28. Februar 2021). Die Hälfte der 60 Kunstwerke kommen aus der eigenen Sammlung. Die anderen wurden bei Museen angefragt – und weil dort die Idee der Ausstellung gefiel, seien 90 Prozent der Anfragen erfolgreich gewesen, sagt Schmidt. Normalerweise liege die Quote bei 40 bis 50 Prozent. Um die Fotografie "Embrace" trotz Reisebeschränkung zeigen zu können, bekam das Museum sogar von der Robert-Mapplethorpe-Stiftung in New York die Sondergenehmigung, aus einer Bilddatei einen eigenen Abzug herzustellen. Die Resonanz des Publikums? "Die Leute sind wirklich berührt, wenn sie in der Ausstellung sind", sagt Schmidt, "weil sie mit etwas konfrontiert werden, was sie vermissen."
Social Distancing: Harte Zeiten für Menschen, denen Berührung wichtig ist
Zurück zur Psychologie: Eine Berührung kann auch als unangenehm empfunden werden, wenn sie etwa unerwünscht stattfindet, wenn sie verweigert oder vorenthalten wird. Ein übergriffiger, bestrafender oder gar gewalttätiger Akt. Und mehr noch: Durch die Corona-Pandemie wird die Berührung auch weltweit als Bedrohung wahrgenommen. Die Menschheit lernt gerade wieder einmal schmerzlich, dass Nähe zu einem geliebten Menschen auch den Tod bringen kann. "Es gibt auch Personen, die andere Menschen nicht so nah an sich heranlassen möchten. Sie sagen, dass die Corona-Regeln sie eher entlasten und ihnen Sicherheit bedeuten", weiß Beate Ditzen aus der Praxis.
Es ist paradox: Ein Symbol für Sicherheit ist für Milliarden Menschen zu einem Symbol für eine Bedrohung geworden. Dieser Widerspruch will vielen nicht in den Kopf. Die Folge: Zahlreiche Menschen tun sich mit dem Social Distancing an sich schwer oder mit dem damit einhergehenden Ausbleiben vielerlei Berührungen – vom Händedruck über den freundschaftlichen Schulterklopfer bis hin zur, ja, Umarmung. "Unsere Daten zeigen: Für Personen, denen Berührung wichtig ist und die alleine leben oder einsam sind, sind das gerade besonders harte Zeiten", sagt Professorin Ditzen.
Eine Berührung hilft gegen Stress
Wer Soziologen, Psychologen, Mediziner befragt, hört häufig diesen Satz: "Der Mensch ist ein soziales Wesen." Das Bedürfnis nach Berührungen liegt in unserer Natur. Schon im Mutterleib spüren wir uns durch Berührungen, verorten uns so im Raum. Als Kinder lernen wir als Erstes die Körpersprache, bauen über Berührungen auch Bindung zu anderen Menschen auf. Sozialer Kontakt ist für uns ein Grundbedürfnis. Säuglinge, die keine Ansprache und Zuneigung bekommen, sterben – das soll angeblich Stauferkönig Friedrich II. einst mit einem menschenverachtenden, seitdem viel zitierten Versuch herausgefunden haben. Noch Ende des 20. Jahrhunderts starben Kinder in rumänischen Waisenhäusern, weil sie keinen Körperkontakt hatten.
Inzwischen hat die Wissenschaft viel über das Faszinosum Körperkontakt herausgefunden. Die C-Fasern senden beispielsweise nur, wenn man von anderen berührt wird. Selbstumarmen, -streicheln oder -kitzeln funktioniert nicht. Berührungen durch einen anderen Menschen können entspannend wirken. Beate Ditzen zitiert Studien, die ergeben haben, dass der menschliche Körper bei Berührung Stress abbaut. Bei Tierversuchen mit Ratten sei festgestellt worden, dass bei Körperkontakt das Hormon Oxytocin freigesetzt wird, der Blutdruck sinkt, der Herzschlag wird verlangsamt, weniger Stresshormone werden ausgeschüttet. Wissenschaftler gehen davon aus, dass das auch im menschlichen Gehirn passiert. Psychologe Martin Grunwald, Haptik-Forscher an der Universität Leipzig und Autor des Buches "Homo Hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können", sagte etwa im Zeit-Interview, dass 30 verschiedene Pillen notwendig wären, um die Wirkung einer zehnminütigen Massage zu erreichen. Mit jeder Berührung öffne man eine hauseigene Apotheke – ohne Nebenwirkungen. Momentan aber hat diese Apotheke quasi nur Notdienst.
Was das nun für Kinder, Mittelalte und Senioren bedeutet
Wir befinden uns gerade in einem riesigen Feldexperiment. Was passieren wird, ist noch nicht klar. "Wir gehen davon aus, dass soziale Einbindung als Stresspuffer wirkt. Im Moment ist es so, dass die Menschen eine enorme Belastung durch die Pandemie erleben, die sozialen Kontakte aber reduziert werden sollen." Mehr Stress also und gleichzeitig weniger Stress-Abbaumöglichkeiten. Und was macht das mit unserer Gesellschaft?
"Wir Mittelalte sind sehr resilient, wir vergessen nicht, dass die Berührung etwas Gutes ist, daher denke ich nicht, dass das langfristige negative Folgen hat", sagt Beate Ditzen. Nachdem im engsten Familienkreis nicht auf Abstand gegangen werden müsse, seien die Kinder entlastet und würden nach wie vor in der Kerngruppe Berührungserfahrungen machen. "Das ist sehr, sehr gut", sagt die Psychologin. Sie sorge sich aber um hochbetagte, einsame, isolierte und demente Menschen, für die Social Distancing eine sehr schlimme Erfahrung sei. Berührungen erzeugen Vertrauen und haben eine beruhigende Wirkung. Daher sieht Beate Ditzen die Besuchseinschränkungen in Altenheimen sehr kritisch und fordert dringend neue Konzepte. "Ich glaube, wir müssen dringend dahinkommen, dass wir Berührung differenzierter angucken, dass sie nicht generell den Tod bringen kann", betont sie und ergänzt: "Wir brauchen mehr stichhaltige Daten."
Und hier noch ein paar Tipps von den Experten
Und bis dahin? Wie die fehlenden Umarmungen kompensieren? Menschen mit Berührungserfahrung können laut Beate Ditzen etwa die Erinnerung an eine Umarmung abrufen, eine Berührung nachempfinden – so wie in der Übung zu Beginn dieses Textes. Oder sie können soziale Nähe durch Videokonferenzen und Briefe signalisieren. Das ersetze zwar keine echte Berührung, wirke aber auch stressmindernd, so Beate Ditzen. Ebenso ein Tier zu streicheln, auch dabei wird Oxytocin im menschlichen Körper freigesetzt. Während der Corona-Pandemie schaffen sich bereits mehr Menschen einen Hund an. Und was ist mit Bäume umarmen, wie es die isländische Forstverwaltung empfiehlt?
Ein Baum könne nicht Zurückumarmen, da fehle die Interaktion, erinnert Grunwald im Zeit-Gespräch. Der Haptikforscher hat für seine Familie übrigens eine eigene Lösung für das Umarmungsproblem gefunden. Nachdem seine erwachsenen Töchter sich nach zwei vorschriftsmäßigen Treffen beklagt hatten – "Papa, das geht so nicht. Lass dir was einfallen" –, wirft er sich zur Begrüßung und zum Abschied ein Laken über und umarmt wie ein Gespenst seine Kinder. "Diese wenigen Sekunden verändern die ganze Begegnung."
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