Veränderung kommt manchmal einfach mit der Post. Da liegen sie also auf dem Schreibtisch, fast als ob nie etwas gewesen wäre: drei Fernreisekataloge. Asien, Amerika, Südafrika. Dazu ein lapidarer Satz des Reiseveranstalters im Anschreiben: „Wir freuen uns, dass es nun endlich wieder losgehen kann.“ Nach zwei Jahren Corona-Stillstand nun das: Die Welt öffnet sich in kleinen Schritten. Die Geschäftsbedingungen dafür haben sich allerdings verändert. Der gültige Reisepass ist nicht mehr der alleinige Türöffner für ferne Länder. Der Nachweis einer vollständigen Corona-Impfung hat inzwischen eine ebenbürtige, wenn nicht sogar höhere Bedeutung. Ohne ihn bleiben nicht nur Grenzen dicht, auch zahlreiche Reedereien oder Reiseveranstalter empfangen Gäste nur noch mit dem sogenannten Green Pass. Manche Museen und Restaurants auch.
Plötzlich infiziert und gestrandet in Wien
Zu Beginn der Pandemie undenkbar, nun fast das neue Normal. Und wer ungeimpft verreist, hat mittlerweile viele, sehr viele Testzentren kennengelernt.
Ein Erlebnis zweier Freundinnen: Wien sollte es sein. Ein paar schöne Tage nach dem bestandenen Abitur. Dann das: Ein Corona-Test war positiv. Die junge Frau hatte keine Symptome und niemand eine Lösung, nur eine Telefonnummer, die dauerbelegt war. Die beiden durften nicht mehr ins Hotel zurück, konnten nicht mit dem Zug nach Hause fahren, und natürlich auch nicht in einem Kaffeehaus warten, bis sie abgeholt wurden. Gestrandet! Die Lösung: ein Picknick im Park, bis die Mutter sie abholte.
Auch wenn sich vieles in diesem zweiten Corona-Sommer schon wieder fast normal anfühlte, die Urlaubsberichte waren es oft nicht. Das Virus spielte oft doch noch die Hauptrolle. War in Kroatien von Corona viel zu spüren? Wie intensiv werden die Impf- und Testnachweise eingefordert? Konntet ihr in Italien mit euren ungeimpften Kindern ins Museum?
Auch der Experte ist erstaunt vom Ergebnis der Umfrage
Dieser vermeintliche Sommer der Freiheit setzte sich aus vielen kleinen Momenten zusammen: die Aufhebung der Ausgangssperren in den Urlaubsländern, dann in Deutschland, die 3G-Regel, das Ende der Quarantänebestimmungen, der erste Cappuccino an der Strandbar, die Bergtour in Österreich, der schöne Zeltplatz in Dänemark. Kleine Schritte für die Menschheit, aber große für Menschen. Und nach ihrer Reise stellten die meisten fest: Hurra, wir können noch Urlaub!
Aber wie haben die Menschen diesen zweiten Corona-Sommer empfunden? Worauf haben sie beim Reisen Wert gelegt? Anruf bei Martin Lohmann. Er ist Leiter der Forschungsgemeinschaft Reise und Urlaub. Seit vielen Jahren befragt er die Deutschen nach ihrem Urlaubsverhalten und seit zwei Jahren auch, wie das Coronavirus sich auf ihre Lust zu reisen auswirkt. Rund 16000 Leute haben geantwortet, online und auch am Telefon. Das Ergebnis ist auch für Lohmann erstaunlich.
Umfrage: Wegfahren im Urlaub bleibt den Deutschen "sehr wichtig"
Erstaunlich deshalb, weil sich trotz der Pandemie kaum etwas verändert hat. Wegfahren im Urlaub sei den Deutschen nach wie vor „sehr wichtig“. Das Reisen habe durch Corona und den damit verbundenen Einschränkungen und Ängsten „nur vorübergehend seine Selbstverständlichkeit in unserer Gesellschaft verloren“. Weil Martin Lohmann ein sehr pragmatischer Mensch ist, erklärt er das so: „Wie bei einer Magen-Darm-Grippe“, bei der man kurzzeitig überhaupt keine Lust auf Essen habe. „Aber danach schmeckt es wieder umso besser.“
Unterhaltung zweier Nachbarn: "Wir kommen gerade von der Amalfiküste zurück." "Das ist ja interessant. Da fahre ich jetzt auch für zwei Wochen hin. Verrückt" - "Keine Amerikaner da, aber es war alles andere als leer. Also ich möchte das nicht erleben, wenn es dort voll ist."
Amalfi, Venedig, Dubrovnik, Amsterdam… Die Liste könnte lange weitergeschrieben werden. Dieser Sommer war wohl die beste Gelegenheit, Europas überrannte Ziele zu erleben, bevor der internationale Tourismus wieder anläuft. Und so kam es oftmals zu kuriosen Situationen. In Venedig etwa. Da traf man sich dann mit Freunden abends zum Essen, mit denen man sich auch zu Hause unter der Woche mal schnell trifft. Oder entdeckte beim Spazierengehen zufällig den Kollegen in der Bar beim Aperol Spritz. Einfach weil sie alle da waren.
Es war vielerorts leerer
Natürlich hat Herr Lohmann seine Gesprächspartner auch gefragt, wie sie das Reisen in Corona-Zeiten empfunden hätten. Nicht wenige sagten: „Es war besser.“ Vor allem deshalb, weil es überall viel leerer war. Hotels und Schiffe etwa konnten schließlich aufgrund der Hygienekonzepte nicht voll belegt werden. Auch habe es gutgetan, „Corona mal hinter sich zu lassen“. Das hätten viele genossen. Nicht nur in Venedig. Oder an der Amalfiküste. Auch an der Ostsee oder im Allgäu.
Aber selbstverständlich war der Reisesommer kein Super-sorglos-Paket. Das ständige Testen vor Ort und die komplizierten Einreiseformalitäten haben viele geärgert. Manches bleibt für immer ein Rätsel. Wie nur für einen Flug ein Online-Formular mit einer Sitzplatznummer ausfüllen, wenn man diese erst nach einem Check-in erhält?
Viele wollten in den Ferien keine „engen Kontakte“
Letztlich vom Reisen abgehalten hat all dies aber kaum jemanden. Corona-Regeln waren mittlerweile eingeübt. Die Stimmung war allgemein entspannter. Dies berichten auf den folgenden beiden Seiten auch die Hoteliers, Strandkorbvermieterinnen, Wanderführer oder Hüttenwirtinnen, die wir in den vergangenen zwei Jahren insgesamt viermal befragt haben, wie es ihnen geht. Und noch immer haben sie viel zu erzählen, weil die Pandemie das Leben von allen, die irgendwie mit Tourismus zu tun haben, extrem durcheinandergewirbelt hat. Grenzschließungen, monatelanger Lockdown, Existenzsorgen – das sind die Stichworte.
Herr Lohmann hat natürlich auch darüber Erkenntnisse, ob das Sicherheitsgefühl unter den Maßnahmen gelitten habe. Auffällig viele Urlauber und Urlauberinnen hätten Ziele gewählt, die sie schon kannten. Sicherheit statt Abenteuer: In den vergangenen zwei Sommern sei dieser Trend deutlich ausgeprägter gewesen als üblich. Sogar innerhalb Deutschlands wurden Urlaubsorte gewählt, die man schon einschätzen konnte. Außerdem erwarteten 70 Prozent der Deutschen, dass der Urlaubsort und die Unterkunft „hygienisch einwandfrei sind“. 61 Prozent achteten darauf, dass das Reiseland keine oder nur geringe Corona-Infektionen aufweist. 55 Prozent wählten ihr Reiseziel so, dass sie im Zweifelsfall rasch wieder nach Hause gekommen wären, und 48 Prozent wollten in ihren Ferien keinen „engen Kontakt mit fremden Menschen“.
Auf Reisen gibt es eine neue Wertschätzung
Allerdings haben die wenigsten, auch das weiß Herr Lohmann, in ihrem Urlaub unangenehme Situationen, wie etwa einen Aufenthalt im Quarantänehotel, selbst erlebt. Deshalb rechnet der Wissenschaftler bald wieder mit mutigeren Reisenden.
Die Deutschen sind natürlich auch routiniert, waren lange Zeit Reiseweltmeister, wissen, worauf sie sich einlassen, seit sie in den 60er Jahren mit ihren vollgepackten Käfern über den Brenner an den Gardasee tuckerten und dann nach und nach die Welt eroberten. Das Unterwegssein und Eintauchen in fremde Lebenswelten gehört längst zum selbstverständlichen Lebensstil. Drei, vier Reisen im Jahr sind bei vielen keine Seltenheit. In diesem Jahr hat das Unterwegssein den Deutschen noch mehr bedeutet als sonst. Lohmann hat eine neue „Wertschätzung“ festgestellt. Über eine Grenze fahren, in der Wärme am Strand zu liegen, in einem Restaurant neue Speisen auszuprobieren, das hätten viele nach der Corona-Reisepause als etwas Besonderes empfunden. Aber Lohmann, der Wissenschaftler, sieht das natürlich nüchtern: „Das wird kein lang anhaltender Zustand sein.“
Zufällige Unterhaltung im Zug: "Ich bin von Bamberg bis an den Ammersee geradelt. Dass es bei uns so schön ist, hätte ich nicht gedacht. Und ihr?" "Wir fahren heute bis Oberammergau. Und dann mit dem Rad immer an der Ammer entlang, bis Fürstenfeldbruck." – "Oh, das ist auch eine sehr schöne Idee."
Was wird bleiben? Die Maske, glaubt Martin Lohmann. In öffentlichen Verkehrsmitteln und in Geschäften etwa. Alles, was in der Gesamtgesellschaft verankert sei, gelte auch beim Reisen. Bleiben könnte auch das neue Interesse an nahen Zielen. Viele der Befragten erklärten, dass es ihnen auch im Harz, in der Eifel oder im Bayerischen Wald überraschend gut gefallen hat, obwohl sie ursprünglich lieber weiter weggefahren wären. Die Erkenntnis, dass man schöne Erlebnisse auch mit weniger Aufwand haben kann, das ist nach Ansicht von Martin Lohmann der einzige Punkt, an dem durch Corona ein Lernprozess der Reisenden erkennbar ist. Viele hätten Deutschland neu entdeckt und seien nun ganz begeistert von ihrem eigenen Land.