Die Drachenwand ist ein Fels im österreichischen Salzkammergut, 1176 Meter hoch. Vom Mondsee aus gesehen erhebt sie sich fast senkrecht. „Albtraumhaft hingestellt“, so schreibt der Österreicher Arno Geiger. Es gibt heute auf der Drachenwand einen Klettersteig und eine Hängebrücke. Wunderbar bei schönem Wetter. Bei Arno Geiger aber ist der Fels nur düstere Kulisse, verdunkelt wie der Schatten, der über dem Land liegt. 1944, noch tobt der Krieg.
Geiger lässt viele Personen vom Schrecken des Krieges erzählen
In diesem letzten Kriegsjahr, als die Entscheidung schon gefallen, aber das Ende dennoch nicht in Sicht, lässt er einen jungen Soldaten hier am Mondsee seine Verwundung auskurieren: Veit Kolbe aus Wien, vom Krieg nur für einige Zeit „zur Seite geschleudert“, bevor der ihn sich später wieder holen wird. Dieser Veit Kolbe ist einer von mehreren, die Geiger von den Schrecken dieses Jahres erzählen lässt, aber seiner Stimme gibt er den größten Raum. Wie schwer seine Verwundung tatsächlich ist, erkennt er erst hier am Mondsee, wohin sich auch andere vor dem Krieg geflüchtet haben: eine Schulklasse aus Wien, eine junge Mutter aus Darmstadt.
Dort, unter den normalen Menschen, wie sie Kolbe nennt, diagnostiziert er „die Verzerrung des eigenen Wesens“. Weil ihn Panikattacken heimsuchen, verschreibt ihm der Arzt das Aufputschmittel „Pervitin“, etwas Ruhe findet er dann aber tatsächlich. Im Nebenzimmer bei Margot, der „Reichsdeutschen“, oder beim „Brasilianer“, Bruder der bösartigen Quartierwirtin, der im Gewächshaus seine Tomaten und seine Orchideen hegt, von der Rückkehr nach Südamerika träumt.
Arno Geiger bereitete den Roman zehn Jahre vor
Der Schriftsteller hat diesen Roman zehn Jahre vorbereitet. Figuren, wie er sagt, umhergetragen, keine Sachbücher, dafür Tagebücher und Briefe gelesen. Unter anderem auch die Briefwechsel von Eltern, Lehrern und Schülern aus dem Kinderlager „Schwarzindien“ am Mondsee. Aus diesem Fundament ist der Roman entstanden, in den Nachbemerkungen finden sich noch biografische Angaben wieder, die den Leser glauben lassen könnten, es handele sich nicht um Fiktion. Es ist aber „ein erfundenes Haus mit echten Fenstern und Türen“, sagt Geiger, der mit seinem Roman so wie beispielsweise zuvor Robert Seethaler mit „Der Trafikant“ auch Antwort auf die Frage gibt, was die Enkelgeneration eigentlich noch erzählen kann über diese dunkle Zeit. Alles. Alles anders. Aus der Distanz heraus wieder mit einem neuen Blick. Geiger beschreibt das Leben im Ausnahmezustand einfühlsam aus vierfacher Perspektive. Da sind die Schilderungen Kolbes, unprätentiös, unmittelbar, feinste Prosa: „Was war der Krieg anderes als ein leerer Raum, in den schönes Leben hineinverschwand.“
Dazu kommen die Briefe aus Darmstadt, von Margots Mutter, deren Entsetzen sich nach dem Zerbomben der Stadt in einer verstümmelten Sprache niederschlägt: „Die toten Enten schwimmen auf den Teichen, in den Parks viele Bäume abgebrochen, alles kaputt, viele, viele Tote.“ Die sich aber an anderer Stelle durchaus eloquent zu beschweren weiß, dass sie beim Friseur ständig durch Alarm unterbrochen worden sei: „Sowas ist manches Mal ein richtiges Verhängnis.“ Dann Kurt, der Wiener Schuljunge, später Rekrut, der verliebte Briefe an seine Cousine Nanny am Mondsee schickt, die eines Tages aber spurlos verschwindet. Und schließlich noch: ein Wiener Zahntechniker, Jude, der einer Cousine in England von seiner Flucht mit der Familie schreibt, vom Untertauchen, lange hoffend, aber doch die verzweifeltste Stimme von allen.
„Unter der Drachenwand“ ist ein düsterer Roman
Es ist ein düsterer Roman geworden, mit der dräuenden Drachenwand im Hintergrund, aber sicher einer der herausragenden dieses Frühjahrs, in dem Geiger all diese Stimmen zu einem hochkomplexen Stimmungsbild verwebt: darin neben dem großen Unglück auch das kleine Glück, das Veit Kolbe mit Margot im schäbigen Quartier erlebt. „Es sind schon ereignisreichere Geschichten von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass meine Geschichte eine der schönsten ist. Nimm es oder lass es.“ Nimm es!