Die unbequeme Frage dieses Romans lautet: Darf man sich vor den schrecklichen Schicksalen anderer Menschen flüchten – weil einem das alles zu anstrengend und zu undurchsichtig ist, weil man grad anderes zu tun hat oder sich eben viel lieber mit anderem beschäftigt?
„Die kommenden Jahre“ erhebt nicht den moralischen Zeigefinger zum Thema Flüchtlinge
Aber nein, „Die kommenden Jahre“ ist keines dieser Bücher mit moralischem Zeigefinger oder einer moralisierenden Botschaft, wie es sie auch zur Flüchtlingsproblematik bereits reichlich gibt. Das Künststück des seit langem zuverlässig interessanten österreichischen Autors Norbert Gstrein ist es vielmehr, dass es praktisch das Gegenteil ist: ein klug gestricktes, unterhaltsam erzähltes und mutig unentschiedenes Buch über die Moral nämlich.
Richard ist Gletscherforscher, Österreicher, eher ein Zauderer und Eigenbrötler; Natascha, mit der ihn nur noch die Reste einer Liebe, der Trauschein, ein gemeinsames Kind und der Wohnort in Deutschland verbinden, ist Schriftstellerin und sehr engagiert. Darum witzelt sie manchmal, er sei erkaltet, was alles Menschliche angeht – und meint es gar nicht witzig. Dieser Konflikt eskaliert, weil sich Natascha angesichts all der Flüchtlinge aus dem in der Katastrophe versinkenden Syrien entschließt, das ererbte Ferienhaus am See einem geflohenen Ehepaar mit zwei Kindern zur Verfügung zu stellen. Und während sie sich samt einer Zeitungskolumne und einem Schreibprojekt mit Familienvater Bassam in diese Mission wirft, fliegt Richard nicht nur äußerlich zu Forschungszwecken nach Nordamerika, sondern fremdelt auch innerlich mit Farhis und dem Unternehmen. Woher etwa soll er wissen, ob der von den anderen Flüchtlingen gefürchtete Bassam wirklich ein Bauunternehmer und nicht Oberst in Assads Regime war?
In einem Haus am See eskaliert die Lage in „ Die kommenden Jahre“
Extern eskaliert die Lage weiter, als sich im Haus am See immer wieder einheimische Jugendliche provozierend zeigen und schließlich sogar die Kinder der Farhis entführt werden. Der Kernkonflikt bleibt aber der interne mit Natascha:
Sie fragte mich zu Recht, was ich ihr damit sagen wolle, als ich ihr von einem Bericht über Helfer in einem Aufnahmelager für Flüchtlinge erzählte, die sich beklagten, sie würden von Künstlern oder vielmehr von sogenannten Künstlern, wie sie mit penetranter Konsequenz genannt wurden, jedenfalls von auf die merkwürdigste Weise inspirierten Leuten, die immer gerade ein paar von den Ärmsten für eine Performance brauchten, beim Verteilen von Kleidern und Lebensmitteln behindert.
„Hast Du etwas dagegen, dass ich mit Bassam zusammenarbeite?“
„Nein“, sagte ich. „Wie könnte ich?“
„Was soll dann diese Gehässigkeit?“
Ich versuchte mich zu verteidigen, machte das Missverständnis aber nur größer, als ich sagte, ich wolle die Motive so mancher von denen, die das Leben von anderen ausschlachten und sich so sicher sind, es sei nur zu deren Bestem, lieber nicht kennen.
„Die Motive?“
Natascha sagte es mit Abscheu.
„Welche Motive hättest du gern?“
„Du weißt, was ich meine.“
„Schalt den Fernseher an, wenn du mir etwas von Motiven erzählen willst“, sagte sie. Sieh dir dort die Leute genau an, die so reden wie du, und dann frag dich bitte, ob du wirklich einer von denen sein willst.“
Man kann das misslungene Kommunikation nennen. Und man kann das durchaus stellvertretend verstehen für vieles, was in den aufgeladenen Debatten über Not und Moral gerade für Streit sorgt. Was Richard übrigens erforscht: den dramatisch fortschreitenden Klimawandel und was wir dagegen noch tun können, dass er unser aller Leben bald grundlegend verändern wird. „Die kommenden Jahre“ eben. Das Große im Kleinen. Gutes Buch!