Eine Frau reist nach Süden. Allein. Es ist kalt in diesem Italien. Die Landschaft ist leer und verlassen, die Orte, an denen sie sich aufhält, sind wintertot. Olevano, Chiavenna, Comacchio. Drei Stationen hat diese Reise entlang der kahlen Rückseiten des Sehnsuchtslandes. Der Wind fegt über die Friedhöfe, auf die es die Besucherin zieht. Esther Kinsky, 61, mit Literaturpreisen überhäufte, aber noch immer wenig bekannte Schriftstellerin und literarische Übersetzerin, hat ein Trauerbuch geschrieben. Sie ist diese Frau, die durch ein unwirtliches Italien reist und den Verlust ihres Lebensgefährten verarbeitet, indem sie sich der „vagen kalten Südlichkeit“ aussetzt und durch „unbekanntes Gelände“ streift.
„Hain“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert
In ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Werk „Hain“, das den seltsamen, aber im Verlauf der Lektüre wahrhaftig eingelösten Untertitel „Geländeroman“ trägt, heißt dieser betrauerte Lebensmensch nur „M.“ – und die Diskretion, mit der die Autorin von ihrem Schmerz und ihren Erinnerungen erzählt, ist eine der Stärken dieses berührenden, bewegenden, poetisch feinsinnigen Sprachkunstwerks. Dieses Buch ist ein Requiem für die Toten. Die Kinsky unbekannten Toten auf den Friedhöfen, deren Fotos auf den Grabsteinen flehen, nicht vergessen zu werden, den toten Gefährten, M., aber auch den toten Vater, mit dem die Autorin so oft in Italien war.
M. – es handelt sich um den 1948 in Schottland geborenen Autor und Übersetzer Martin Chalmers, der 2014 in Berlin starb – war nicht nur der geliebte Partner Kinskys. Er führte ein literarisches Aufmerksamkeits-, ein Wanderleben mit ihr, die beiden sahen, deuteten und notierten zusammen, was sich in dem gemeinsam verfassten Buch „Karadag Oktober 13. Aufzeichnungen von der kalten Krim“ nachvollziehen ließ, das 2014 im Todesjahr Chalmers erschienen ist.
Esther Kinsky beschreibt die Landschaften eines fremden Italiens
Nun also ist Esther Kinsky allein unterwegs, betrachtend, beschreibend, durch die Gegend, durch das Gelände gehend. Immer gegenwärtig sind die „möglichen Flüche der Hinterbliebenschaft: die Beschwerung von Dingen mit Zeugenschaft“. In Olevano bei Rom, wo sie sich für einsame Winterwochen einquartiert hat, liest sie die Welt und durchlebt, wie eine Verlusterfahrung den Blick filtert. „Erinnerungen an Tätigkeiten schlugen innen an meine Schädeldecke, als schwappe da ein Meer, aus dessen Tiefe sie verzerrt aufgestiegen waren. Ankleiden. Waschungen. Anlegen von Verbänden. Auflegen der Hand.“ Der Abwesende M. ist da. Einmal heißt es: „Ich wusste, wie wir zusammen zwischen diesen Gräbern umhergegangen wären.“ Was war, was noch hätte kommen können, was noch hätte sein können: Esther Kinsky überlässt sich der Gegenwart und den Erinnerungen, sie fotografiert und zeichnet mit Worten und Sätzen, sie vermisst die äußere und innere Landschaft mit einer staunenswerten Sprachintensität und Genauigkeit. Der Hain, unscheinbar, allgegenwärtig, ist so etwas wie ein Maß der Wahrnehmung. Wann hat man zuletzt solche unprätentiösen, überzeugenden Naturbeschreibungen gelesen! Kinsky treibt durch die Landschaften eines fremden Italiens, ihre Beschreibungswut wirkt manchmal wie eine Beschwörung, mit der sie sich erdet, um nicht zu verschwinden, sich nicht aufzulösen im Nichts. „Ich stand Stunden am Fenster wie in einer Glocke, die sich über mich gestülpt hatte und mich in die Kindheit versetzte, als ich mich nachmittags und abends oft unfähig fühlte, etwas anderes zu tun, als aus dem Fenster zu sehen.“
In drei Teilen, die aus insgesamt 60 kurzen, nur wenige Seiten langen Kapiteln (stets mit nur einem Wort betitelt) gefügt sind, erkundet Esther Kinsky die sichtbare Welt und erschließt sich ihre Umgebung. Am ehesten bewegt von Handlung, im Ton auch lichter, ist der mittlere Teil, in dem Kinsky sich an die vielen prägenden Italienreisen ihrer Kindheit mit der Familie erinnert – Spiegelungen zu heutigen Erfahrungen bei der Rückkehr an diese Orte.
Als Alleinreisende denkt Esther Kinsky über Vergänglichkeit und den Tod nach
Über das Beschreiben findet Esther Kinsky Halt und Selbstvergewisserung. Vergänglichkeit, Tod, die Rätsel der Erinnerung – darüber denkt die wandernde Alleinreisende nach. „Belichtete Filmrollen vor der Entwicklung blieben immer ein zerbrechliches Geheimnis, als sähe man noch unbekannte Träume in lauter identischen Hüllen aufgereiht.“ Sie widmet sich dem Wetter, beschreibt die Feuer von Olivenbaumschnittgut, die Dorfläden, die Geräusche, die Berge in der Ferne, das Licht.
Wie schon in ihrem Meisterwerk „Am Fluss“, in dem sie Aufzeichnungen ihrer Exkursionen am River Lea im Osten Londons zu einem Sprachereignis komponiert hat, gelingt es Esther Kinsky auch in „Hain“, profane Motive und Beobachtungen aufzuladen mit einer Wortmagie, die am Gewöhnlichen wächst. Wieder, wie in London und später auf der Krim, ist auch das „Gelände“ in Kinskys neuem Buch nicht lieblich einladend, sondern so wie die Salinen, durch die sie wandert – eine abweisende Gegend, in der es nichts „Erhabenes“ gibt.
Die Sensibilität, mit der diese Sprachartistin und Spurenleserin die Brachen der Welt abtastet, prägt den „Geländeroman“, der auch ein Logbuch der Erkundungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Leben und Tod ist. Einmal fährt die Autorin über Land. „Alles war Passage. Die müden Reisenden im Bus kamen alle von irgendwoher und wollten irgendwohin, weil sie Menschen waren, wie es in einem Buch heißt.“