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Brettspiele: Wie Reiner Knizia aus Illertissen über 700 Spiele erfunden hat

Brettspiele

Wie Reiner Knizia aus Illertissen über 700 Spiele erfunden hat

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    Wie Reiner Knizia aus Illertissen über 700 Spiele erfunden hat
    Wie Reiner Knizia aus Illertissen über 700 Spiele erfunden hat

    Das Spiel beginnt im Kopf. Reiner Knizia sieht sie schon vor sich in Gedanken, die Menschen, die sich über sein Spielbrett beugen. Wie sie den Würfel werfen, die Karten legen oder ihre Figuren ein Feld weiter Richtung Ziel ziehen. Wie ein Schachmeister vor dem Zug denkt Knizia schon zehn Schritte weiter – bevor das Spielbrett überhaupt fertig gestanzt und bedruckt ist. Er erklärt: „Ich schließe die Augen und blicke in die Spielsituation. Nun bin ich am Zug. Und dann kommen schon die Emotionen.“ Gedankenspiele, die er denkt, wenn er ein Spiel entwickelt.

    Wird das jetzt zu langweilig? Zu kompliziert? Lande ich in einer Sackgasse? Immer wieder korrigiert Knizia die Geschichte und den Bauplan eines Spiels. Er streut ins Rezept der Spielanleitung noch ein paar Prozent mehr Glück ein. Oder eben Mathematik. Oder Taktik. „Das Gefühl des Spielmoments, das ich dann empfinde, wenn ich jetzt ein Pharao in Ägypten bin oder ein Detektiv, der einen Fall auflösen möchte, das basiert auf ganz intuitiven Entscheidungen“, erklärt er.

    Als Spielerfinder ist Reiner Knizia Sieger. Beim Spielen guter Verlierer

    Die Wette gilt: Wer Brettspiele liebt, hat wohl schon einmal einen Knizia gespielt, selbst ohne es zu wissen. „Keltis“, „Lama“, „Carcassonne – Die Burg“, „Euphrat & Tigris“: alles Knizia. Dieser Schwabe – Markenzeichen: großes Lächeln, flotte Antworten und immer eine stilvolle Fliege um den Kragen, auch im Zoom-Interview – erfindet Spiele. Über 700 zählt sein Werkverzeichnis, darunter viele Hits. Ein Regal in seinem Büro füllen Trophäen, dicht an dicht, viermal gewann Knizia den Deutschen Spielepreis, er ist ein Siegertyp in seiner Sparte. Aber wenn er selbst mal am Spieltisch sitzt, bleibt er gelassen: „Ich bin ein guter Verlierer“, sagt Knizia, mit tiefenentspanntem Schmunzeln. „Am Ende ist beim Spiel nicht das Gewinnen wichtig, sondern der Weg zum Ziel. Und je mehr sie selbst spielen, desto mehr reizen sie der Vorgang des Spiels, die Interaktion und das Miteinander.“ Knizia ist überzeugt: Wer schlecht verliert, wird wohl kaum Spieleerfinder – denn niemand kann immer gewinnen. Verständnis hat er aber trotzdem, wenn die Gefühle hochkochen, Mensch sich doch einmal ärgert und Kegel durchs Wohnzimmer fliegen. „Gerade bei Kindern ist das ja etwas anderes“, findet er, ganz milde.

    Auf die große Liebe zum Spiel traf Knizia in den 60er-Jahren, in Schwaben, in seiner Heimatstadt – in einem Friseurgeschäft. „In Illertissen gab es den Friseur Herz“, erinnert er sich, und der Salon war das einzige Geschäft weit und breit, das Brettspiele verkaufte. „Dieser eine Laden war die Welt des Spiels für mich.“ Und neben Waschbecken und Trockenhauben entdeckte er: Monopoly. Hin und weg war der Junge, auf den ersten Blick – aus einem Grund: „Besonders diese Stapel von Geld haben mich fasziniert“, erzählt Knizia. Die bunten Scheine zeichnete er dann einfach selbst – und dichtete seine eigenen Regeln hinzu.„Solche Erinnerungen prägen das ganze Leben“, sagt er, Jahrzehnte später erfand er dann ein elektronisches Monopoly-Spiel. „So ist aus mir ein Mathematiker und Physiker geworden. Der Spieleerfinder in mir war ja schon immer da.“

    Seine Einfälle verwandelte der junge Knizia in Spiele, für sich und Freunde und für das Spiel allein. Der Psychologe Anders Ericsson behauptete einmal, man brauche 10000 Stunden Übung, um Meister zu werden in einem Fach. „Diese Stunden habe ich in meiner Jugend absolviert, beim Spielen“, erinnert sich der 63-Jährige. Später fand er dann ein neues Spielfeld, eines für Erwachsene: das Bankenwesen. 24 Jahre arbeitete Knizia in England, als Vorstand eines Finanz-Unternehmens. Ein Milliardengeschäft. Sinnlose Überstunden im Büro habe er aber nie abgesessen, sagt er – immer waren da auch noch die Würfel, die Figuren und Karten im Hinterkopf. Als er dann beim Traditionsverlag Ravensburger anklopfte, war er Ende 20. Er schrieb ein Buch über das Spielen, der Stein kam ins Rollen, das erste Knizia-Brettspiel auf den Markt. Spätestens als er 1993 den Deutschen Spielepreis gewann, wurde aus Spaß Ernst und langsam ein Hauptberuf.

    Reiner Knizia war Vorstand eines englischen Finanzunternehmens

    „Ich habe mir zum 40. Geburtstag die Freiheit geschenkt. Ich habe mich quasi gegen das Geld und für das Herz entschieden“, erzählt Knizia – wobei das Geschäft mit seiner Spielewerkstatt inzwischen brummt. Für Knizia ist Deutschland ein Paradies der Branche, und hier, in München, hat er auch heute wieder seinen Lebensmittelpunkt gefunden. Hier werden alte Klassiker noch gepflegt und neue Ideen in Riesenbandbreite auf den Markt gespült. Während sich in den USA die Geister noch immer ein wenig scheiden – Spiele sind für die einen Kinderkram, für die anderen Obsession – sei Spielkultur in Deutschland und Österreich Alltag. „Hier wird das Spiel von Generation zu Generation in der Familie weitergetragen“, sagt Knizia. Abende am Brett gehören zum Kulturgut und mit der Kultur blüht auch der Markt: Verlage, Spieleautoren, Fachpresse, Messen, die Hallen füllen. Der Anspruch steigt.

    Das Spiel im Regal muss vom Karton bis zum letzten Spielzug überzeugen. „Steve Jobs hat es vorgemacht: Wie man aus einer Idee ein ideales Produkt schafft“, sagt Knizia. „Ein gutes Spiel zu entwickeln bedeutet eben nicht, dass ich mich einen Nachmittag lang hinsetze, eine zündende Idee habe und damit Millionen verdiene.“ Die Erfolgsanleitung: Entwerfen, testen, verbessern, ruhen lassen, rein in die Schublade, raus aus der Schublade, weiter feilen.

    Jeder Erfinder hat seine Stärken. Eine kleine Typologie nach Knizia: „Der Grafiker sagt: Ich weiß noch nicht, wie es funktioniert, aber ich zeichne mal einen Plan. Der Story-Teller, der leidenschaftliche Erzähler sagt: Ich hab eine schöne Geschichte, die möchte ich umsetzen. Und es gibt Leute wie mich, Naturwissenschaftler, die zuerst den Mechanismus und das Modell sehen.“ Was die Szene zusammenschweißt, ist die Hingabe zum Spiel. „Wir freuen uns, wenn der andere ein gutes Spiel hat.“ Kein Platz für schlechte Verlierer.

    Ein Spiel findet seine Form in Gesprächen, zwischen dem Erfinder und seinen Testgruppen, die jeden neuen Knizia zuerst begutachten. Nach jeder Runde fragt sich der Meister: Welche Idee taugt für den Massenmarkt? Was lieben Vielspielerinnen und Vielspieler, was Feinschmeckerinnen und Feinschmecker? Und: Wird das was oder nicht? Das muss Reiner Knizia früh entscheiden – schließlich warten in seinen 50 berüchtigten Schubladen schon die nächsten Ideen. „Die Spiele sind meine Kinder. Aber ich habe einen Vorteil: Wenn ich eines nicht mag, kann ich es in den Papierkorb schmeißen“, sagt er. Knizia sucht das nächste perfekte Spiel.

    33 Millionen Deutsche spielen Gesellschaftsspiele

    Legacy-, Deckbau-, Krimi- und Hybrid-Spiele: Jede Sorte scheint eine Sportart für sich. „Wir haben in Deutschland seit Mitte der 90er schöne Wachstumsraten“, erzählt Knizia. Digitale Spiele dominieren zwar den Markt, aber darin sieht er keine ernste Konkurrenz. Die Umsätze mit Gesellschaftsspielen steigen stabil weiter. Nach einer Allensbach-Umfrage von 2020 spielen rund 33 Millionen Deutsche ab und zu Gesellschaftsspiele, 5,6 Millionen regelmäßig.

    Knizia-Fans tummeln sich heute in Internetforen und bei Messen. Die Szene wächst und neue Preise küren die ausgebufftesten Spieleautoren. Solche Netzwerke entstehen jetzt auch in Ländern, die Brettspiele gerade erst für sich entdecken. „Es ist schon fast zu viel des Guten. Kein Mensch kann mehr alles ausprobieren“, sagt der Erfinder. Selbst Corona kann den Aufschwung nicht ausbremsen. Im Gegenteil. Der Mann mit der karierten Fliege guckt jetzt fast ein bisschen verschämt: „Unsere Spielebranche ist ein Gewinner der Krise. Man fühlt sich fast schuldig, das zu sagen, aber vor allem die bekannten Spiele sind jetzt unheimlich gefragt.“ Manche Spieleverlage hätten ihren Umsatz inmitten der Krise um 50 Prozent gesteigert. Der Kult ums Brett schwappt jetzt auch über Hollywood, Stichwort „Damengambit“: Netflix hat dem Ur-Spiel Schach, Königsdisziplin für Sitz- und Denksportler, ein elegantes Heimkinodrama in sieben Folgen gewidmet, das in 63 Ländern auf Hitlisten-Platz eins der Streamingplattform schoss. Seither klettern bei Ebay die Schachbrett-Verkäufe auf ein Allzeithoch – ein Plus von 215 Prozent.

    Freizeit im Lockdown bedeutet: kaum Sport und keine Fernreisen, Museen, Theater, Kneipen dicht. So wird jede Partie „Siedler“ am Küchentisch zum Ausflug in eine andere Freiheit, nach eigenen Regeln – in Gemeinschaft. „Ein gutes Spiel soll vor allem eine Plattform sein“, findet Knizia. Das Brett als Treffpunkt. Der Köder liegt in der Geschichte des Spiels, im Abenteuer und im Ziel. Aber es geht auch um mehr: Die radikale Weltflucht aus der Krise, spielt sich für Knizia eher in den elektronischen Medien ab, beim Zocken am Bildschirm, bis in die Haarspitzen versunken in eine andere Welt. „Beim Brettspiel geht es aber um die Faszination für dein Gegenüber. Da gibt es Aha-Momente: Jetzt weiß ich, wie du tickst – lass uns noch eine Partie spielen.“

    Knizia versteht seinen Beruf nicht als Wissenschaft oder als Spielwiese für sein mathematisches Talent. „Als Künstler habe ich die Ambition, etwas Innovatives zu schaffen“, sagt er. Den Trend der „kooperativen“ Spiele hat er stark geprägt. Alles begann mit der Gemeinschaft des Rings – der Schwabe sollte ein Brettspiel für den „Herr der Ringe“ entwerfen. Jeder gegen alle, das passt nicht zur Geschichte. Viel eher: Gefährten am Spielbrett, zusammen.

    Reiner Knizia hat eine Schublade für jede neue Idee. Jetzt sind es 100

    Die Fachwelt habe damals die Nase gerümpft, erzählt Knizia. Miteinander statt gegeneinander? Das klingt nach Kinderspiel, nach Harmonie in Langeweile. Doch die Idee schlug ein und entpuppte sich als Erfolgsprinzip. „Es ist ein schöneres Erlebnis, nicht auf Kosten des anderen zu spielen“, findet der Meister. Kooperation bedeute, einander zu stärken und mit zu tragen, auch den Schwächsten in der Runde. „Spiele leisten einen verbindenden Beitrag für unser Miteinander. Hautfarbe, Religion und weiß der Kuckuck – das ist im Spiel vollkommen irrelevant“, sagt Knizia. Das gilt auch und besonders in Phasen der großen Unruhe. Knizia muss da an die Bilder vom 6. Januar denken, an die Attacke auf das Kapitol. „Die Menschen in Amerika sollten vielleicht mehr gemeinsam spielen“, sagt er, halbernst, lächelnd.

    Knizias Universum bleibt überschaubar: Zwei Kolleginnen unterstützen ihn in München, seit er vor dem Brexit nach Deutschland zurückgekehrt ist. Doktor Knizia hält jetzt auch Vorlesungen an der Universität und so fand er eine Gruppe junger Menschen, die nun seine neuen Werke testen. Frische Inspiration. Der Schwabe erfindet für Verlage wie Hasbro und Ravensburger, für Marken wie Lego und Star Wars. Mit „El Dorado“ (2017), jagt er die Spielenden durch den Dschungel, in Holland, Italien und Frankreich war es „Spiel des Jahres“. Der große Kniff liegt für Knizia in der Unsichtbarkeit: „Der Nutzer merkt gar nicht, wenn Genialität drin steckt.“ Spiele entwickeln ist eine Kunst, die man nicht wahrnimmt, ohne krumme Enden und Kanten, die den Macher und seine Arbeit verraten. „Ein Spiel muss intuitiv sein und flüssig laufen. Die meisten möchten nicht eine Stunde lang Regeln lesen.“

    Bis vor kurzem tagte an jedem Wochentag eine Knizia-Testgruppe – dann stoppte Corona den Spielbetrieb. Wie geht es weiter? „Ich habe mir heimlich noch einmal 50 Schubladen angeschafft“, sagt Knizia und freut sich diebisch. Eine Schublade für eine Idee. Das nächste Spiel hat im Kopf längst begonnen.

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