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Afghanistan: "Niemand kümmert sich um uns": Die Hilferufe der Frauen in Afghanistan

Afghanistan

"Niemand kümmert sich um uns": Die Hilferufe der Frauen in Afghanistan

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    Ein Mitarbeiter eines Schönheitssalons übermalt am Sonntag in Kabul nach dem Einmarsch der Taliban ein großes Frauenpoträt.
    Ein Mitarbeiter eines Schönheitssalons übermalt am Sonntag in Kabul nach dem Einmarsch der Taliban ein großes Frauenpoträt. Foto: Kyodo, dpa

    Es dauerte nur wenige Stunden, da waren die Bilder von den Männern, wie sie sich in Zentrum der Macht im Präsidentenpalast gruppieren, manche mit einem fast ungläubigen Lächeln im bärtigen Gesicht, noch ganz neu, da waren andere Bilder schon am Verschwinden. In der afghanischen Hauptstadt Kabul machten sich die ersten Geschäftsleute eilig daran, Werbeplakate, die Frauen zeigen, zu entfernen. Oder mit weißer Farbe zu übertünchen … Und während in den Nachrichten Bilder von Kämpfern, die Gewehre geschultert, auf Lastwagen stehend, durch Straßen patrouillierend, um die Welt gingen, häuften sich auf den sozialen Netzwerken, auf Twitter, Instagram und Facebook, die Hilferufe der Frauen. "Niemand kümmert sich um uns", spricht eine weinende junge Frau in die Kamera: "Wir werden langsam in der Geschichte sterben."

    Vor den Augen der Weltöffentlichkeit vollzieht sich ein Albtraum, und dass es vor allem, wenn auch wahrhaftig nicht nur, für die Frauen Afghanistans ein Albtraum ist, daran können auch alle Versprechen der Taliban keinen Zweifel lassen. Sahraa Karimi, Filmemacherin und Präsidentin des Filminstituts Afghan Film in Kabul, verfasst auf der Flucht einen verzweifelten Brief an die Welt, in der sie von Morden und Folter an Frauen und Künstlern während der Eroberungszüge der

    Gleiches berichteten Journalistinnen: "Wir sehen ein Schweigen voller Angst um uns herum", erzählt eine afghanische Journalistin im englischen Guardian: "Wir sind an unsere Häuser gefesselt, und der Tod bedroht uns in jedem Moment." Zarifa Ghafari, Afghanistans erste Bürgermeisterin, schreibt auf Twitter: "Ich sitze hier und warte darauf, dass sie kommen. Es gibt niemanden, der mir oder meiner Familie hilft."

    Almut Wieland-Karimi: In zwanzig Jahren wurde viel aufgebaut

    Afghanistan war auch in den vergangenen Jahren immer eines der gefährlichsten Länder der Welt – ganz besonders für Frauen. In ihrem Bericht von 2018 schrieb die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes von häuslicher Gewalt, Verstümmelungen, Schlägen, Ermordungen und Zwangsheiraten. Afghanistan, das war zuletzt aber auch ein Land, in dem Richterinnen Recht sprachen, in dem die Verfassung eine 25-prozentige Quote von Parlamentarierinnen vorschreibt, Unternehmerinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen, Künstlerinnen, Journalistinnen und Sportlerinnen in der Öffentlichkeit präsent waren, mehr Frauen denn je Zugang zu Bildung und Gesundheitseinrichtungen erhielten. Seit der Machtübernahme der Taliban sind all diese Frauen in Gefahr. Die afghanische Fotografin Rada Akbar schreibt während des Vormarsches der Taliban auf Twitter: "Mit jeder Stadt, die zusammenbricht, brechen menschliche Körper zusammen, brechen Träume zusammen, brechen Geschichte und Zukunft zusammen, brechen Kunst und Kultur zusammen, brechen Leben und Schönheit zusammen, bricht unsere Welt zusammen". Was droht nun? Rückkehr in die dunkelsten Zeiten?

    Afghanistan ist nicht mehr zu vergleichen mit dem Land vor 25 Jahren, als die Taliban zum ersten Mal ihre Schreckensherrschaft etablierten, den Frauen alle Rechte nahmen. Die Gesellschaft ist jung, trotz einer nach wie vor hohen Anzahl von Analphabetinnen und Analphabeten besser aus- und weitergebildet, aufgewachsen in einer wenn auch noch so wackeligen Demokratie. Sie kennt die Welt auch über die sozialen Medien, über die nun Hilferufe gesendet werden. "In zwanzig Jahren wurde viel aufgebaut", sagt Almut Wieland-Karimi, Islamwissenschaftlerin und Geschäftsführerin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze in Berlin, eine Tochterorganisation des Auswärtigen Amtes. "Ich glaube nicht, dass all diese Errungenschaften wieder verschwinden werden. Dafür gibt es viel zu viele hoch qualifizierte und engagierte Menschen." Aber in die Zukunft blicken? Schwer genug schon die Nachrichten der Gegenwart aus Afghanistan zu deuten.

    Talibanherrschaft: Studentinnen dürfen nicht mehr auf den Campus

    Man wolle die Frauen an der Regierung beteiligen, versprachen die Taliban Mitte der Woche, und forderten auch alle Afghaninnen auf, zurück zur Arbeit zu kehren. Auf Youtube kursierte ein kurzes Video, das wenige Frauen zeigt, die in Kabul für ihr Recht auf Arbeit demonstrieren, begafft, aber weitgehend unbehelligt. Im afghanischen Fernsehen durfte eine Reporterin dann am Dienstag überraschend einen Taliban interviewen – mit gehörigem Abstand. Das sind die einen Meldungen, die anderen: In Kandahar wurden weibliche Bankangestellte von ihren Arbeitsplätzen vertrieben, in Herat Studentinnen am Besuch der Universität gehindert.

    Ausgerechnet Herat. Knapp 60 Prozent der Studierenden sind dort Frauen, mehr als ein Viertel aller Lehrstühle von Professorinnen besetzen. Die Universität galt als eine der fortschrittlichsten. Auf sozialen Netzwerken wurde derweil berichtet, Frauen würden auf offener Straße von Passanten als die Schuldigen beschimpft: Die Taliban seien gekommen, um sie zu disziplinieren. Und am Rande vermerkt auch dies: Vorauseilend stellte der unabhängige Sender Tolo schon einmal die beliebten indischen Seifenopern, die auch mal einen unverhüllten Frauenbauch zeigen, ein.

    Die Universität Herat galt als eine der fortschrittlichsten, knapp 60 Prozent der Studierenden sind Frauen. Das Foto stammt von 2011.
    Die Universität Herat galt als eine der fortschrittlichsten, knapp 60 Prozent der Studierenden sind Frauen. Das Foto stammt von 2011. Foto: Jalil Rezayee, epd, dpa

    Die Gesellschaft in Afghanistan ist eine andere als vor 25 Jahren

    Almut Wieland-Karimi sagt, aus den jetzigen Aktionen der Taliban auf die Zukunft zu schließen, speziell auch die der Frauen, sei wie der Blick in die Glaskugel. Aber: "Die Situation ist eine ganz andere als 1996". Nicht nur, dass die Gotteskrieger auf eine andere Gesellschaft treffen, auch die Taliban selbst sind anders als jene vor 25 Jahren. Man müsse davon ausgehen, dass sie ihre konservative Islaminterpretation anwenden. "Aber es ist viel zu früh, etwas darüber zu sagen, wie sich das konkret auswirken werde." Sie gehe davon aus, dass sich die Taliban, die sich sehr viel staatsmännischer geben, um internationale Anerkennung bemühen werden. In diesem Zusammenhang lassen sich auch die Ankündigungen sehen, dass Frauen weiterhin arbeiten gehen sollen "Aber ob das auch so beibehalten wird, ich bin skeptisch."

    Dennoch: Dass sich der Fortschritt nicht ganz umkehren lässt, das also ist die kleine Hoffnung. Der die große Angst gegenübersteht, die Almut Wieland-Karimi in Gesprächen mit Freundinnen und Bekannten aus Afghanistan erlebt: "Alle haben Sorge, alle wissen nicht, was passieren wird." Und wer wird noch helfen? Zur Geschichte von Afghanistan gehört auch, dass die Weltgemeinschaft sich um die entrechteten Frauen in Afghanistan während der Schreckenszeit von 1996 bis 2001 wenig kümmerte. Militärisch eingegriffen wurde erst nach 9/11, weil die Taliban die für die Anschläge verantwortliche Terrorgruppe al-Qaida unterstütze. Für Frauenrechte wird kein Krieg geführt.

    Alice Schwarzer fordert: Nur Kinder und Frauen aufnehmen

    Die EU hat gemeinsam mit 19 Staaten mittlerweile ein Statement abgegeben, in dem sie all jene, die in ganz Afghanistan Macht und Autorität innehaben, auffordern, "den Schutz von Frauen und Mädchen zu gewährleisten". Man sei zutiefst besorgt und wer jede künftige Regierung aufmerksam beobachten. Im nun herrschenden Stimmengewirr fiel die Feministin Alice Schwarzer derweil mit der Forderung auf, nur Frauen und Kindern aus Afghanistan Asyl in Deutschland zu gewähren – weil sie besonders gefährdet seien. Und: Weil sich unter die Flüchtenden Terroristen mischen könnten. Almut Wieland-Karimi sieht das anders: Man müsse sich um die am meisten Gefährdeten kümmern und sie unterstützen. Das seien vor allem Frauen, aber auch jene Männer, die mit deutschen Organisationen zusammenarbeiten.

    Feministin Alice Schwarzer forderte, nur Frauen und Kindern aus Afghanistan Asyl in Deutschland zu gewähren - und erntete Kritik.
    Feministin Alice Schwarzer forderte, nur Frauen und Kindern aus Afghanistan Asyl in Deutschland zu gewähren - und erntete Kritik. Foto: Oliver Berg, dpa

    Der Filmemacherin Sahraa Karimi ist unterdessen die Flucht gelungen, sie ist sicher in der Ukraine gelandet. "Hava, Maryam, Ayesha" hieß ihr Film über drei afghanische Frauen, der 2019 bei den Filmfestspielen in Venedig zu sehen war. Unterstützt wurde sie von der amerikanischen Schauspielerin Angelina Jolie, die damals erklärte: "In Zeiten, in denen die Zukunft des Landes in der Schwebe ist, erinnert uns dieser Film daran, was für Millionen afghanischer Frauen auf dem Spiel steht." Sahraa Karimi beendete ihren Brief vom 15. August mit den Worten: "Ich rufe noch mal: Leute dieser großen weiten Welt, bitte, schweigt nicht; sie kommen, um uns zu töten."

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