Woodstock ist tot. Vorletztes Jahr wurde das 15 Hektar große Gelände in Bethel nahe New York, wo 1969 das Festival „3 Days of Peace & Music“ stattgefunden hatte, zum Kulturdenkmal erklärt. Und vergangenes Jahr dann rückten die Archäologen an, um durch Ausgrabungen mehr über jene untergegangene Zeit zu erfahren, etwa wo eigentlich die Bühne stand, auf die damals Jimi Hendrix, CCR und Janis Joplin traten. Aber sie fanden nur abgezogene Laschen von Bierdosen und Glasscherben.
Gleichzeitig aber lebt Woodstock. Ist sogar lebendig wie nie zuvor. Aber nicht wegen des groß angekündigten Festival-Revivals „Woodstock 50“ das ganz in der Nähe, beim Örtchen Watkins Glen, und wie das Original Mitte August stattfinden sollte, wie damals wieder mit Santana und dazu Stars wie Miley Cyrus, Jay-Z und The Killers. Denn in diesem Unternehmen herrscht nun schon weit im Vorfeld das totale Chaos von Woodstock 1969. Und in der heute längst höchst professionalisierten und von Versicherungsfragen umzingelten Eventbranche bedeutet das eben mindestens: Es sieht gar nicht gut aus …
Sondern Woodstock als „Mutter aller Festivals“ ist lebendig wie nie – durch Nachkommenschaft. Wenn dieses Wochenende bereits 85000 Menschen beim „Africa Festival“ in Würzburg feiern und kommendes Wochenende beim Zwillingsriesen aus „Rock am Ring“ in der Eifel und „Rock im Park“ in Nürnberg insgesamt über 160000, dann gehen damit die vielen schon erwachsenen Kinder auch hierzulande mit Erfolg längst immer weiter, von Auflage zu Auflage. Spätestens in der Enkelgeneration aber ist die Menge und Vielfalt der Erben unüberschaubar geworden. Deutlich über 400 Festivals sind es allein in Deutschland. Mindestens. Und wer da noch so etwas wie Orientierung sucht, verliert sich gerade dadurch allzu schnell, wenn er Übersichten wie im Internet festivalplaner.de durchscrollt.
Der Kunde will‘s heute grün, gesund und familienfreundlich
Es gibt, gerade international und wie es sich für eine boomende Branche im Kapitalismus gehört, buchstäblich für alle Arten von Tierchen das jeweilige Pläsirchen. Und natürlich längst auch Listen mit den im Geschäftsbereich erzielten Bestmarken. Nur zum Beispiel: Das namentlich passend in der belgischen Gemeinde Boom stattfindende Dance-Festival „Tomorrowland“ hat im Jahr 2013 alle erhältlichen 183000 Karten in Rekordzeit verkauft: nach einer Sekunde im Online-Verkauf. Inzwischen ist es auf 400000 Besucher angewachsen, aber auch nach höchstens einer Stunde ausgebucht. Die meisten Menschen hatte bislang das stets gigantische dreitägige Wiener „Donauinselfest“ im Jahr 2015: mit 3,3 Millionen Besuchern. Als bislang längstes durchgängiges Musikfestival steht das „GEM Fest“ in Georgien 2017 in den Rekordlisten, natürlich mit elektronischer Musik, es dauerte: 32 Tage. Und als der teuerste Festival-Pass aller Zeiten firmiert dort das VIP-Paket samt Privatjet und Leibkoch für das „Secret Solstice“ mit Konzerten in einem 5000 Jahre alten Lavatunnel nahe dem isländischen Reykjavik mit einer Dollar-Summe von: 1 Million.
Schneller, größer, länger, teurer – viel aufschlussreicher aber als die erreichten Superlative der Höchstleistungsgesellschaft sind neue Trends, in denen sich dann auch aktuelle Entwicklungen im Alltag dieser Gesellschaften spiegeln. Wer nämlich noch das Bild von Musikdröhnung und (mindestens) Dosenbierbedröhnung, von Zeltplatzpartys, notfalls auch im Schlamm, mit Festivals verbindet, der könnte von den Ergebnissen einer Studie überrascht sein, die für die Veranstalter die Vorstellungen ihrer Kunden abfragt. Denn ja, so was gibt es wie in jeder anderen Wirtschaftsbranche hier inzwischen auch, heißt dann „Eventbrite“, ist eigentlich ein globaler Ticket-Anbieter, und wertet in Deutschland die repräsentative Befragung von 1000 Menschen aus, die in den vergangenen zwölf Monaten ein Festival besucht haben.
Dabei kam heraus: „78% der Befragten gaben an, dass ihnen gesundes Essen und Trinken auf Festivals teilweise bis sehr wichtig sind.“ Gesundes Trinken! Für 40% seien zudem veganes Essen teilweise bis sehr wichtig (bei der Veganer-Quote laut Statista von 0,96% in Deutschland). Und: „40% der Befragten gaben an, dass ihnen ein familienfreundliches Angebot auf Festivals wichtig bis sehr wichtig ist.“ Beim, so heißt es, „Kernpublikum deutscher Musikfestivals“ seien es sogar 51% – und das seien inzwischen die 30- bis 49-Jährigen. Diese Elterngeneration möge eben weiterhin Festivals besuchen, und „am liebsten mit ihren Kindern“. Den höchsten Wert erreicht jedoch die Nachhaltigkeit: „75% der Befragten gaben an, dass sie darauf achten, ob es Wasserspender, Recyclingmöglichkeiten und Plastikvermeidung auf dem Festival ihrer Wahl gibt.“ Die Trends, so fasst es „Eventbrite“ für Deutschland zusammen, heißt also: „Festivals sollen grün, gesund und familienfreundlich sein.“
Moshotel in Wacken, Rockotel am Nürburgring
Exzess oder Ausnahmezustand sieht anders aus. Und haben sich tatsächlich bereits in den vergangenen Jahren ganz neue Typen von Festivals etabliert, meist sind es auch kleinere, exklusivere. In Luhmühlen in der Lüneburger Heide etwa geht „A Summer’s Tale“ nun in die fünfte Auflage, bietet für bis zu 13000 Besucher vier Tage im Grünen mit kultiviertem Pop von Zaz bis Michael Kiwanuka, mit Autorenlesungen, allen Arten von Yoga-Workshops auch für Kinder, Kanufahrten, Wein-Seminar. Und buchbaren, bereits aufgebauten, bis hin zu Teppichen und Doppelbetten voll ausgerüsteten Hauszelten. Natürlich in einem eigenen Komfortcamping-Bereich mit eigener Bar, eigenen Sanitäranlagen – und eigenem Preis. In der Version für zwei Personen kostet das Wochenende 749 Euro, die noch größere und teurere für die vierköpfige Familie ist längst ausgebucht. Diese neue Zusammensetzung des Festivalerlebnisses verbreitet sich zusehends. Und hat auch bereits die klassischen Branchenriesen erfasst.
Im Heavy-Metal-harten und immer ausverkauften „Wacken“ mit seinen jährlich 75000 Besuchern gibt es dieses Jahr auch schon nicht mehr zum ersten Mal ein sogenanntes „Moshtel“: eine ganze Arena mit Wohn- und Schlafcontainern, das Wochenende in einem der Appartements für zwei Personen kostet 1399 Euro – sie sind ausgebucht. Am Nürburgring lockt „Rock am Ring“ nun in einem „Rockotel“ mit Containern und sogar noch schickere „Lodges“, für die man zu zweit dann schon über 2000 Euro hinlegen muss. Selbst das große Reggae-Festival „Summerjam“ in Köln bietet ein „Deluxepaket“ im Tipi für 895 Euro im exklusiven Beachcamp samt Bar-, Stand-up-Paddel- und Yoga-Angeboten am Fühlinger See.
Und das volle Workshop-Programm
Am Nürburgring wie beim Zwilling im Park in Nürnberg gibt es auch längst einen eigenen Supermarkt auf dem Festivalgelände, aber noch keine Workshop-Programme. In Wacken schon. Hier kann man Feuerschlucken und Schwertkampf lernen, beim HipHop-Festival „Splash“ bei Chemnitz wiederum Graffiti sprayen üben, und beim in seiner deutschen Ausgabe auch nicht weniger als 85000 Menschen jährlich nach Berlin lockenden „Lollapalooza“ gibt’s einfach gleich mal alles: Es gibt einen Modebereich, einen Artisten- und Künstlerbereich, es gibt einen „grünen Kiez“ mit Workshops zur Nachhaltigkeit, es gibt einen Kinderbereich … Dessen Sprecher sagt dann auch: „Die Leute betrachten ein Festival als Wochenend-Ausflug und Kultur-Event.“ Auch hier findet sich inzwischen für alle Arten von Tierchen das jeweilige Pläsirchen.
Was aber hat das alles nun mit Woodstock zu tun? Einerseits nähert sich die Bewegung hin zu Yoga, Kunst und Naturbewusstsein ja wieder Hippie-Charakteristischem an. Andererseits flacht das, wofür die „Mutter aller Festivals“ viel mehr in der Erinnerung geblieben ist, tendenziell ab: der Exzess und die Feier einer so gar nicht bürgerlich sein wollenden Gegenkultur. Was von jener jugendlichen Freiheitsversammlung zunächst noch zur zumindest vorübergehenden Befreiung der Jugend aus der Gesellschaft geworden ist – nun reift das mit dem Durchschnittsalter seiner Teilnehmer zusehends zur bürgerlichen Freizeitgestaltung. Wo sich Hippie-Träume längst in grüne Real-Politik verwandelt haben … Der Exzess verlagert sich derweil an die kroatische Adriaküste, wo enthemmte Strandparty-Festivals boomen.
Mit Kunst, ohne Polizei - geht das noch?
Wer sich aus dieser freilich auch kommerziellen Entwicklung heraushalten will wie das „Fusion“-Festival bei Lärz in Mecklenburg-Vorpommern, das jährlich mit 70000 Menschen, die zumeist nicht nur zahlen und feiern, sondern auch mitgestalten, zu einer freien Parallelgesellschaft, zu einem „Ferienkommunismus“ werden soll, mit viel Kunst und ohne Polizei – der sieht sich 50 Jahre nach Woodstock Drohungen der Behörden ausgesetzt. Darum beginnt die neue Flucht im ganz Kleinen – mit illegalen Kleinst-Festivals, die nur über „soziale Medien“ verbreitet, deren Ort und Zeit auch dort erst am Tag des Geschehens selbst bekannt gemacht werden. Die Ur-Enkel von Woodstock sind keine Gegen-Öffentlichkeit mehr – sie ziehen sich aus der Gesellschaft zurück. Denn die Geschichte der Festivals ist wie die Geschichte von Woodstock und die Geschichte des Pop überhaupt: eine Geschichte der Vereinnahmung und damit der Zähmung alles Widerständigen.