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40 Jahre nach Gründung: Wie die Grünen von der Öko- zur Volkspartei wurden

Im Höhenflug: Die Grünen haben sich zur Volkspartei gemausert.
Foto: Marijan Murat, dpa (Symbol)
40 Jahre nach Gründung

Wie die Grünen von der Öko- zur Volkspartei wurden

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    Sonnenblumen sind Kompasspflanzen. Die Eigenart, sich immer der Sonne zuzuwenden, nennt man Heliotropismus.

    Es ist eine Unsitte unserer Zeit, Politikerinnen, Politiker und Politik nach rein äußerlichen Kriterien zu beurteilen. Und doch kommt man angesichts des Parteitags der Grünen im letzten November um solch eine modische Exegese nicht umhin, präsentierten sich die Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt auf der Bühne schließlich als eine Art bundesrepublikanische Combo in staatstragendem Schwarz-Rot-Gelb.

    Die Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck und Annalena Baerbock.
    Die Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck und Annalena Baerbock. Foto: Guido Kirchner, dpa

    Zufall? Schwer zu glauben, wo doch die Inszenierung selbst des Authentischen heute stets ebendies bleibt, eine Inszenierung eben, und wenn das zutrifft, so ist die Botschaft klar: Seht her, wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, wir stehen in der Mitte dieses Gemeinwesens und wollen unseren Teil dazu beitragen, mit all der dazu nötigen Frische, aber auch der – um gewählt zu werden – noch mehr nötigen Ernsthaftigkeit, gravitätischen Pathos. „Mehr wagen, um nicht alles zu riskieren“ stand denn auch folgerichtig auf dem Bühnenhintergrund, man könnte mit Giuseppe Tomasi de Lampedusa allerdings auch gleich sagen: „Wenn wir wollen, daß alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, daß alles sich verändert.“

    Die Geschichte eines sehr unwahrscheinlichen Erfolgs.

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    Und das wiederum sagt denn aber auch ziemlich viel: Der Satz eines sizilianischen Adeligen aus dem vorherigen Jahrhundert, einem anderen Adeligen aus dem vorvorherigen Jahrhundert (in seinem berühmten Roman „Il Gattopardo“) in den Mund geschrieben, als politische Programmatik der Grünen von heute.

    Doch sagt das auch, dass das verkehrt ist?

    Geschichtsbewusstsein bewiesen die Grünen jedenfalls mit der Wahl ihres Tagungsorts im November, denn in Bielefeld war mit Figuren wie Lukas Beckmann, Michael Vesper und Jutta Ditfurth eine der Keimzellen der Partei, zog als eine der Vorläufer-Organisationen die dortige „Bunte Liste“ im Herbst 1979 in den Stadtrat ein. Und vielleicht ist ein Blick in die Geschichte der dann an diesem Wochenende vor genau 40 Jahren zur Partei gewordenen, ursprünglich kunterbunten Bewegung hilfreich, um ihr jetziges schwarz-rot-gelbes Erscheinungsbild zu verstehen.

    Sechs Fakten über die Grünen

    Sprung ins Parlament: 1983 ziehen die Grünen erstmals in den Bundestag ein. Das Ergebnis damals: 5,6 Prozent.

    Sieben Jahre an der Macht: Von 1998 bis 2005 regieren die Grünen im Bund gemeinsam mit der SPD unter Kanzler Gerhard Schröder.

    Frauen nach vorne: 40,5 Prozent der Mitglieder sind weiblich. Damit sind die Grünen die Partei mit dem höchsten Frauenanteil. In der SPD sind es nur 32,6 Prozent, in der CSU nur 20,7 Prozent.

    An der Landesspitze: 2011 stellen die Grünen mit Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg erstmals einen Ministerpräsidenten.

    Große Verantwortung: In elf von 16 Bundesländern regieren die Grünen mit.

    Der Trend geht in eine Richtung: Nach aktuellen Umfragen stehen die Grünen bei 21 Prozent. Die Zahl der Mitglieder ist mit 95.000 auf einem Allzeit-Hoch.

    Es ist dies jedenfalls die Geschichte eines sehr unwahrscheinlichen Erfolgs, denn die – im Übrigen ebenfalls schwarz-rot-gelbe – politische Ordnung der Nachkriegszeit schien in Form von CDU/CSU, SPD und FDP fest etabliert, die beiden Volkspartei-Lager auf dem Höhepunkt, und noch 1980, also im Gründungsjahr der Grünen, wagte der Publizist Sebastian Haffner gar die Prognose, dass die BRD zwangsläufig auf ein Zwei-Parteien-System ähnlich dem in den USA zusteuert („Überlegungen eines Wechselwählers“). Es kam bekanntlich anders.

    Am 13. Januar 1980 gründeten gut 1000 Delegierte in Karlsruhe die Bundes-Grünen.
    Am 13. Januar 1980 gründeten gut 1000 Delegierte in Karlsruhe die Bundes-Grünen. Foto: Albert Ostertag, dpa (Archiv)

    Denn ausgehend von den Universitätsstädten und der außerparlamentarischen Opposition griff wenig später ein Unbehagen um sich und erfasste schließlich auch weitere Bevölkerungskreise, es ging plötzlich nicht mehr wie in den 70ern um revolutionäre Sektiererei, sondern um Nachrüstung, Angst vor dem Atomtod, es ging um sauren Regen und das Sterben des Waldes, kurz: Nicht nur unser jetziges Jahrzehnt – Stichwort Klimawandel – hat das zweifelhafte Privileg, ein apokalyptisches zu sein, vor 40 Jahren war die Stimmung ähnlich. No Future. Oder doch?

    Die Grünen stießen jedenfalls in ein politisches Vakuum, als sie sich am 12./13. Januar 1980 in Karlsruhe als Partei gründeten. Und unter den auf ein Transparent gemalten Schlagworten ÖKOLOGISCH, BASISDEMOKRATISCH, SOZIAL, GEWALTFREI konnten sich die verschiedensten Gruppierungen und Strömungen versammeln: christliche Naturschützer, rechte Anthroposophen, linke K-Grüppler, Frauen- und Friedensbewegte, Hausbesetzer aus Frankfurt und Landwirte aus dem Wendland – was nicht nur diesen ersten Parteitag etwas kakophon erscheinen ließ. Dessen ungeachtet und einige hitzige Diskussionen später zog die Partei mit der Sonnenblume – in hoc signo vinces – 1983 in den Bundestag ein, und in der Folge kristallisierte sich als langjähriger Dauerzustand der Konflikt zwischen Realos und Fundis heraus, Parteiaus- und -übertritte inklusive.

    Norwegerpullis galten einst als grün, also öko - und tauchten 1983 mit den Grünen auch im Bundestag auf.
    Norwegerpullis galten einst als grün, also öko - und tauchten 1983 mit den Grünen auch im Bundestag auf. Foto: Heinrich Sanden, dpa (Archiv)

    Und heute? Nach dem traumatischen Benzinpreisbeschluss, der der Partei 1998 fast den Einzug in die erste rot-grüne Bundesregierung verhagelte, nach dem Farbbeutelwurf auf den damaligen Außenminister Fischer wegen des Kosovo-Krieges, nach dem einen oder anderen schmerzhaften Rendezvous mit der Realität des Regierungsalltags und als irgendwo zwischen Fünf- und-zehn-Prozent-Partei scheinen die Grünen nun die politische Kraft der Stunde. Was am Erodieren der alten Volksparteien liegt, aber auch an Ereignissen wie der Reaktor-Katastrophe von Fukushima – und natürlich vor allem der derzeit alles überlagernden Klima-Thematik. Dabei wird freilich oft vergessen, dass ein Teil der etwa von den Schülern allfreitäglich kritisierten Zustände auch in die Verantwortlichkeit der Öko-Partei fällt. Nur so zur Erinnerung: Die Rodung des umkämpften Hambacher Forsts für den Braunkohletagebau, den Greta Thunberg erst letzten Sommer medienwirksam besuchte, schritt auch unter einem grünen NRW-Landesumweltminister weiter voran.

    Im Mai 1999 wird auf einem Sonderparteitag der Grünen aus Protest gegen den Nato-Einsatz im Kosovo ein Farbbeutel auf Fischer geworfen.
    Im Mai 1999 wird auf einem Sonderparteitag der Grünen aus Protest gegen den Nato-Einsatz im Kosovo ein Farbbeutel auf Fischer geworfen. Foto: Bernd Thissen, dpa (Archiv)

    Man könnte nun, nach Max Weber, das alte Spannungsfeld zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik bemühen, also dem, was die moralisch lupenreine Lehre wäre und andererseits die daraus resultierenden Folgen sind. Aber das greift zu kurz. Vielmehr ist die einstige Öko- mittlerweile selbst zu einer Volkspartei geworden. Und das ist gut und schlecht zugleich.

    Es ist gut, weil die Grünen das von den etablierten Kräften des politischen Betriebs und der Gesellschaft lange nicht ernst genug genommene Thema Umwelt mühsam und gegen alle Widerstände in deren Mitte getragen haben. Bis sie selbst zur Mitte wurden. Es ist schlecht, weil der Markenkern der Partei, die natürlich und wie gesagt nie eine ohne Widersprüche war, zwar erfolgreich am Leben gehalten, aber im Lichte der Wahlerfolge und mehr noch der jüngsten Umfrageergebnisse von ihr selbst auch ein Stück weit verunklart werden. Ökosozialemarktwirtschaftdings?

    Die Partei scheint für alles Gute und Wahre in der Welt zu stehen.

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    Vielleicht ist das ja der Fluch der Volkspartei, es möglichst vielen wenn schon nicht recht zu machen, so doch möglichst wenige durch allzu konkrete Einlassungen zu verprellen. Etwas wie die Veggie-Day- oder Benzinpreis-Panne würde den heutigen Grünen wohl kaum mehr unterlaufen. Und so scheint die Partei – von Fragen der Migration, der Minderheiten, des Klima- und Naturschutzes (was beiläufig erwähnt bisweilen ja durchaus zu Konflikten führt) bis hin zur Mülltrennung – für alles Gute und Wahre in der Welt zu stehen, ohne dass die von der Bild oder der politischen Konkurrenz beschworene Drohkulisse der moralinsaueren Verbotspartei (mein Schnitzel gehört mir!) noch zu verfangen scheint.

    Gewählt an die Spitze des größten deutschen Energieverbands: Kerstin Andreae von den Grünen.
    Gewählt an die Spitze des größten deutschen Energieverbands: Kerstin Andreae von den Grünen. Foto: Patrick Seeger, dpa (Archiv)

    Selbst in der Wirtschaft werden die vormaligen, vermeintlichen Bürgerschrecks und Ökozausel hofiert, die Wahl der einstigen Bundestagsfraktionsvize Kerstin Andreae an die Spitze des größten deutschen Energieverbands ist nur eines der jüngeren Beispiele. Man fragt sich jedenfalls: Ist das nur Zeitgeist oder tatsächlich das, was der Münchner Soziologe Armin Nassehi mit der besonderen „Übersetzungsleistung“ zwischen den verschiedensten Teilsystemen und Gesellschaftsschichten meint, zu der die Partei mittlerweile in der Lage und geradezu prädestiniert sei?

    Fest steht und um im soziologischen Duktus zu bleiben: Die Grünen scheinen mittlerweile in allerlei Richtungen anschlussfähig zu sein, für die Pfarrhaushälterin genauso wählbar wie den mittelständischen Unternehmer. Was auch daran liegt, dass sich letztlich durchsetzte, was ein junger Grüner zum Entsetzen seiner basisdemokratischen Parteifreunde laut FAZ schon 1984 postulierte: Die Menschen wollten „gut regiert“ und ansonsten „in Ruhe gelassen werden“. Der das sagte und damit sowohl bei Fundis als auch Realos aneckte war Winfried Kretschmann, heute bekanntlich Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

    Winfried Kretschmann: "Ganz viele Menschen suchen Orientierung bei uns und erwarten von uns realistische Antworten."
    Winfried Kretschmann: "Ganz viele Menschen suchen Orientierung bei uns und erwarten von uns realistische Antworten." Foto: Guido Kirchner, dpa (Archiv)

    Man könnte also vielleicht auch behaupten: Das, was auf der anderen Seite des politischen Spektrums und spätestens während der Flüchtlingskrise Merkel vorgehalten wurde, nämlich ergrünt zu sein, trifft umgekehrt auch auf die Grünen zu: Diese sind mittlerweile selbst irgendwie vermerkelt. Denn man merke: Der vor (über) 40 Jahren ausgerufene „Marsch durch die Institutionen“ verändert in der Regel eben nicht nur diese, sondern vor allem auch die Marschierenden selbst.

    Und eigentlich ist das ein beruhigender Befund. Zumindest für alle, die eben nicht das System sprengen wollen. Die Grünen aber müssen jetzt springen. Denn die nächste Generation, die nächste Welle des Unbehagens an den Zuständen formiert sich schon. In Kempten beispielsweise wollen Fridays for Future ähnlich wie in anderen bayerischen Städten im Frühjahr bei den Kommunalwahlen antreten – für einen Stadtrat wohlgemerkt, in dem die Grünen momentan sechs Sitze innehaben. Das ist wohl der frühe Preis, nach 40 Jahren nunmehr nicht nur als eine Volks-, sondern gar als eine potenzielle Kanzlerpartei angesehen zu werden.

    Der Stamm verhärtet am Ende der Knospenstufe seine Ausrichtung. Blühende Sonnenblumen sind nicht mehr heliotrop (Wikipedia)

    Lesen Sie dazu auch: Die Grünen werden 40: Wie war das damals?

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