Es kann keinen Zweifel geben: Ludwig van Beethoven war ein schwieriger Charakter, von Jugend an. Dies lag wohl in seinen Genen; das beförderte wohl auch der trinkende, unerbittlich strenge, ja schlagende Vater, der Ludwigs Begabung erkannt hatte. Zigfach berichten Zeitzeugen und Dokumente von Beethovens zügellosem, grimmigem Temperament, von Reizbarkeit, Ungeduld, sarkastischer Ader, Misstrauen.
Gewiss nicht die unbedeutendste Stimme darunter ist Goethe, nachdem sich Komponisten- und Dichterfürst nach längerem – von Bettina Brentano gesteuerten – Anlauf im Juli 1812 im Kurbad Teplitz getroffen hatten und eher unbegeistert wieder auseinandergegangen waren. Goethe hält in einem Brief fest: „Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel [abscheulich] findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht.“ Und auch Beethoven hatte sich mehr von Goethe erwartet, nämlich einen unbestechlichen „ersten Lehrer der Nation“ – keinen Menschen, der höfischen Glanz schätzt. Und so trennte man sich bei ungleicher Wellenlänge.
Beethoven also: bizarr und schwer berechenbar. Dass genau dies aber für seine Musik – wie für die Kunst überhaupt – ein ungeheurer Vorteil ist, steht auf einem anderen Blatt. Beethoven schrieb das Unerwartete – und trieb derart die Musikgeschichte voran. So erdrückend und gewaltig originär war seine Sinfonik, dass die Komponisten nach ihm lange nicht recht wussten, wie sie selbst noch originär sein könnten. Wenn Beethoven im Scherzo seiner Frühlingssonate die Violine insistierend ein Viertel zu spät erklingen lässt, setzt die Oboe im Scherzo seiner sechsten (Pastoral-)Sinfonie bockig ein Viertel zu früh ein, um sich dann zu korrigieren. Ein sonderlicher Humor – mehr als ein musikalischer Scherz.
Zeugte Beethoven das Kind „Minona“?
Das „Ungebändigte“ Beethovens verstärkte sich noch im Laufe seines Lebens – so, wie sich im Alter allgemein Charakterzüge, Obsessionen, Marotten verstärken. Zeitweise verrannte sich Beethoven auch – davon später mehr. Aber hat es so nicht geradezu kommen müssen – bei dem Teufelskreis, in dem der Komponist steckte? Man beachte: Spätestens 1797, da war Beethoven erst 27 Jahre alt und hatte er noch keine seiner Sinfonien geschrieben, lediglich ein Klavierkonzert uraufgeführt, stellten sich rasch zunehmende Hörbeeinträchtigungen ein. Was für eine Tragik für einen, der mit und durch die Musik lebte, ehrgeizig war, bedeutend werden wollte in der Musikgeschichte! Was für eine Tragik für einen, der anspruchsvoll war, der Vollkommenheit, Perfektion anstrebte! Dass ihn auf dem Weg zur gänzlichen Ertaubung selbstredend Depressionen, Übersprungs-handlungen, gar Selbstmordgedanken begleiteten, ist nicht zuletzt an seinem erschütternden Heiligenstädter Testament (folgende Seite) abzulesen – einmal ganz abgesehen davon, dass durch Schwerhörigkeit solch eine Charaktereigenschaften wie Misstrauen zwangsläufig verstärkt wird. Da helfen keine Hörrohre und keine Konversationshefte.
Ein Drittes und Viertes kommt hinzu: Beethovens langjährig unerfüllter Wunsch auf eine Kapellmeisterstelle und – gravierender noch – seine langjährige, aber ergebnislose Suche nach einer Frau. Lässt nicht Sigmund Freud grüßen, wenn der Komponist zweimal mit den Worten Friedrich Schillers und in gewiss nicht randständigen Werken vertont: „Wer ein holdes Weib errungen, mische/stimme seinen Jubel ein …“ („Fidelio“ beziehungsweise neunte Sinfonie). Kandidatinnen hatte es ausreichend, nicht zuletzt infolge des Klavierunterrichts, den Beethoven gab. Aber nicht alle dieser Kandidatinnen waren adelig wie die geborene Josephine Brunsvik sowie Therese von Malfatti – wodurch anscheinend unüberwindliche Standesunterschiede die Ehe verhinderten. Man muss sich schon auch fragen bei aller Genialität Beethovens: Wie attraktiv ist ein schwieriger und schwerhöriger Mann? Dies und die ebenfalls gehörbedingte Entfremdung von Welt und Gesellschaft sind zusammengenommen der Teufelskreis, in dem Beethoven steckte. Wenn auch der Titel seines Liederzyklus’ „An die ferne Geliebte“ nicht autobiografisch zu verstehen ist, so kann er doch als eine Art von Metapher für die lebenslange Liebessehnsucht Beethovens gelten.
„Der Knabe muß Künstler werden“
Es gab ja sogar auch eine „ferne“ Geliebte, die sogenannte „Unsterbliche Geliebte“, an die Beethoven, ebenfalls in Teplitz, ebenfalls im Juli 1812, einen Liebesbrief schrieb – neben dem Heiligenstädter Testament das wohl bedeutendste Schreiben aus seiner Hand und seit Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.
Wer war die „unsterbliche“ Geliebte, die Beethoven nicht heiraten konnte, durfte? Auf zwei Namen hat sich die Diskussion zugespitzt: auf Antonie Brentano, Schwägerin Bettina Brentanos, und auf erwähnte Josephine Brunsvik, damals verheiratet mit, aber bereits getrennt lebend von Baron von Stackelberg. Beide könnten im Sommer 1812 mit Beethoven zusammengetroffen sein. Bewiesen aber ist nichts. Allerdings gibt es mittlerweile eine Neigung hin zu Josephine – und die hat einen höchst menschelnden Hintergrund:
Josephine gebar Anfang April 1813 in Wien eine Tochter – also neun Monate, nachdem sich die „unsterbliche Geliebte“ mit Beethoven getroffen hatte. Und diese Tochter wurde „Minona“ genannt, ein Anagramm von „Anonima“. Und wer noch den massiven Schädel Beethovens mit dem massiven Schädel der erwachsenen Minona vergleicht, der könnte Bestätigung finden für die Josephine-These.
Zu den bereits beschriebenen Lebenswidrigkeiten kam 1815 noch eine weitere hinzu: Beethoven setzte nach dem Tod seines Bruders Karl juristisch durch, dass die Vormundschaft über seinen Neffen nicht seine Schwägerin erhält, sondern er selbst, der Onkel. Das aber war für alle Beteiligten im Grunde eine Katastrophe. In erster Linie deshalb, weil Beethoven, auch wenn er es letztlich gut meinte, vollkommen überzogene Erwartungen gegenüber dem neunjährigen Karl hegte. Was Beethoven von ihm wollte, war – in glaubwürdiger Zeugenaussage – nicht weniger als: „Der Knabe muß Künstler werden oder Gelehrter, um ein höheres Leben zu leben und nicht ganz ins Gemeine zu versinken.“ Jenen Anspruch, den Beethovens Vater in den jungen Ludwig pflanzen konnte, diesen Anspruch hatte er nun seinerseits an den Neffen. Mehr noch: In einem Brief schrieb Beethoven sogar: „ich werde nun also in diesem meinem lieben Neffen … suchen etwas besseres hervorzubringen als ich selbst.“ Das war im Jahr 1816, als Beethoven bereits an seiner neunten Sinfonie arbeitete. Aber die Praxis ging gründlich schief. Zehn Jahre später wird der Neffe erklären: „Ich bin schlechter geworden, weil mich mein Onkel besser haben wollte“; zehn Jahre später auch wird er einen Suizidversuch hinter sich haben.
„Alle Menschen werden Brüder!“
Abgesehen vom eigenen strengen Vater, abgesehen von Begabung, Fleiß, Leistungsbereitschaft: Wie kam Beethoven zu den riesigen Erwartungshaltungen gegenüber sich selbst und seinem Neffen? Nun: Beethoven war zum Bildungsbürger herangewachsen, zum Moralisten, zum Humanisten. In ursächlichem Zusammenhang damit steht seine Geburtsstadt Bonn, wo unter Kurfürst Maximilian Franz nicht nur ein betont aufklärerisches Klima herrschte, sondern auch Lese- und Debattier-Gesellschaften mit hohen Idealen wirkten. Davon wurde Beethoven angesteckt, und die Französische Revolution 1789 tat ein Übriges. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Sie hielt Beethoven ein Leben lang genauso hoch wie – Achtung Doppeldeutigkeit – Friedrich Schiller. Auch ein anderer großer Jubilar 2020, Friedrich Hegel, verfocht begeistert ein Leben lang die Forderungen der Revolution.
Ist es nicht merkwürdig, dass 1793 schon der Bonner Jura-Professor Bartholomäus Fischenich den Feuerkopf Beethoven erkannte und Schillers Ehefrau Charlotte schrieb: „Er [Beethoven] wird auch Schillers Freude (...) bearbeiten.“ Das war fünf Jahre, bevor Beethoven tatsächlich das heute verschollene Lied „An die Freude“ nach Schiller schrieb – und 22 Jahre, bevor er mit der neunten Sinfonie begann. In ihr lässt er abermals ausrufen: „Alle Menschen werden Brüder!“
Gut möglich, dass Beethoven heute ein linksgerichteter, wertkonservativer und – bei seiner emphatischen Naturliebe – grünsympathisierender Bürger wäre. Erst 2012 tauchte ein Beethoven-Brief von 1795 auf, in dem der Komponist die provokante Frage stellte: „Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird?“ – die Frage also nach der Aufhebung aller Klassen. Und egal, ob es stimmt, dass Beethoven von der Widmung seiner dritten Sinfonie, „Eroica“, an Napoleon allein wegen dessen Kaiserkrönung wieder Abstand nahm: Zunächst war er ein Anhänger Napoleons, dann nicht mehr. Eine der schönsten sarkastischen Bemerkungen des bekennenden Republikaners Beethoven lautet: „so lange der österreicher noch Braun’s Bier und würstel hat, revoltiert er nicht.“
„Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen!“
So läuft alles bei Beethoven darauf hinaus: Er wollte seinen Teil dazu beitragen, den Menschen in seinen moralischen, intellektuellen, ästhetischen, politischen Ansichten zu veredeln. Die Befreiungsoper „Fidelio“, in der sich eine mutige Frau gegen Ungerechtigkeit und Willkür erfolgreich auflehnt, spricht – auch musikalisch – Bände: Die Trompete verkündet appellhaft das Ende der Unfreiheit politischer Gefangener. Hört die Signale!
Und Beethoven enthob sich auch nicht der Pflicht, immer weiter an sich selbst zu arbeiten und sich selbst zu erziehen – erst recht nicht in dem Moment, da sich die Lebenswidrigkeiten einstellten: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht.“ Das schrieb er in der Zeit seines Heiligenstädter Testaments. Das Ringen, Behaupten, über sich Hinauswachsen gehörte zu Beethovens Moral – wie Tugendhaftigkeit, Männlichkeit, Heldentum insgesamt zu seiner heroischen, pathetischen Epoche gehörten. Infam haben die Nazis später sein Kämpfen, Durchhalten, Überwinden für ihre „Endsieg“-Parolen missbraucht. Er aber, der visionäre Beethoven, wollte sich – persönlich wie musikalisch – von der Schwärze des Schicksals befreien. Elanvoll hin zur Freiheit, elanvoll hin zum Licht.