Der Mann: Da doch so gern gerätselt wird, wie er ist oder zu sein hat in moderner, zeitgenössischer Gestalt – vor hundert Jahren hat sich ein literarisches Typendreieck gebildet, in dem das Wesentliche eigentlich bis heute enthalten ist.
Um mit dem zu beginnen, was bei heutigen Beschreibungen so oft durch Unschärfen zwischen Idealbild und tatsächlichem Zustand übersehen wird: Wesentlich gehört zur Wirklichkeit auch der toxische Tinder-Typ, der Chauvi-Rapper aus der Mucki-Bude – quasi ein direkter Nachfahre von Brechts 1922 uraufgeführtem „Baal“. In eben diesem Jahr erschienen ist zudem „Ulysses“ von James Joyce mit seinem Männerdoppel aus dem älteren Leopold Bloom und dem jüngeren Stephen Dedalus, eigenwilligen Typen, intellektuell interessante Gemütsmenschen, als Fremdlinge dem Bodenständigen zugetan, schrullige Originale – heute: Nerds.
Von Hermann Hesse über die Hippies zu den Hipstern
Und endgültig Gestalt nimmt das zeitgenössische Mannsbild, gerne beschrieben als Alpha-Softie, mit dem Publikumsstar des Dreiecks: Hermann Hesses ebenfalls jetzt vor 100 Jahren erschienener „Siddhartha“, dem Erleuchtungsreisenden, dem Intensitätssucher, der noch immer meditiert, aber neben der Seele beim endlos trendenden Yoga auch den Körper samt Bewusstsein trainiert. In den veganen Second-Hand-Hipstern erlebt ohnehin der weltretterisch visionäre, ideologisch liberale Hippie seine bürgerliche Auferstehung.
In dieser Zeit hatte der deutsch-schweizerische Autor und besonders dieses Werk ja ohnehin erst seine besondere Wirkmacht entfaltet. Seitdem wurde der Sprössling einer evangelischen Missionarsfamilie mit seinem „Glasperlenspiel“ und „Narziß und Goldmund“, seinem „Demian“ und „Unterm Rad“ … – vor allem aber mit seinen den Sinn und die Grenzen des Lebens befragenden „Steppenwolf“ und „Siddhartha“ Generation für Generation zuverlässig wieder und neu entdeckt. Und dafür trotz Literaturnobelpreis (und wegen des blanken Erfolgs von weit über 150 Millionen verkauften Büchern?) von der akademischen Germanistik eher scheel beäugt.
„Er blickte um sich, als sähe er zum ersten Male die Welt. Schön war die Welt, bunt war die Welt, seltsam und rätselhaft war die Welt!“ So heißt es schon bald, im Kapitel „Erwachen“ über jenen Brahmanen-Sohn, den Hesse in seiner „Indischen Dichtung“ mit dem Namen Buddhas auf eine spirituelle Reise schickt. Denn im Gegensatz zu seinem besten Freund Govinda kann er sich mit überlieferten Wahrheiten nicht zufriedengeben. Und bricht auf. Wie in der Folge des Buchs Millionen Menschen aufgebrochen sind, um das dort beschriebene Indien und sich selbst, den eigenen Weg zu finden.
Sind der Yoga-"Siddhartha" von heute besser als Kindermenschen im Buch?
Mit zwei interessanten Widersprüchen bereits hier: Hesse, dessen Mutter in Indien geboren wurde, hatte das Land selbst als reines Sehnsuchtsbild beschrieben, weil er aufgrund einer Erkrankung während der Reise dorthin auch nur sehr begrenzt Eindrücke sammeln konnte und was er sah, ihn doch enttäuschte. Und die Aussage seines Buches ist ja eben die, dass es gerade nicht um das Nachfolgen auf dem Erkenntnis- und Erleuchtungsweg anderer (Heiliger) geht, sondern um ein eigenes Erwachen. Aber eine Episode wie jene, in der Siddhartha das Lieben (in beiden Formen) von der schönen Kamala lernt, stellte man sich wohl gerne vor. Und hübsch anzueignen scheint ja auch die Herablassung im Blick auf die Gesellschaft mit ihren Wohlstandsträumen, gebündelt im Begriff der Kindermenschen – aber es ist ja nur eine vermeintliche. Denn der Suchende selbst wird ja zum erfolgreichen Händler, entdeckt auch in der Hingabe daran eine gegenüber asketischen Pfaden nicht eben minderwertige Lebensintensität, weil er auch diese Episode bis zum Ende durchleben muss. Und das hat mehr von Marx, der den Kapitalismus als notwendig zu durchlaufende Entwicklung zu tun als mit Erleuchtungstouristen, die kiffend meinen, gleich erkannt zu haben und sich aus jeder Spannung der Existenz heraus direkt ans Ziel meditiert zu haben.
Siddhartha muss dazu Enttäuschungen und Zusammenbrüche erleben, auch in seiner letzten Station, beim Fährmann am Fluss noch, wo er etwa mit seinem renitenten Sohn ringt. „Langsam blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis, das Wissen darum, was eigentlich Weisheit sei, was seines langen Suchens Ziel sei. Es war nichts als eine Bereitschaft der Seele, eine Fähigkeit, eine geheime Kunst, jeden Augenblick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können.“ Wenn es etwas aus dessen Geschichte bei Hesse zu lernen gibt, dann: dass es eine Abkürzung zu diesem „Wissen um die ewige Vollkommenheit der Welt“ nicht gibt; dass der Weg immer ein je ureigener; und dass es völlig gleichgültig ist, ob man sich die Dinge der Wirklichkeit nur als Schein zu entlarven meint, es geht nie um die Erhabenheit gegenüber anderen, auch keine moralische – und Größe entscheidet sich „nur im Tun, im Leben“.
Von "Siddhartha" zu "Eat Pray Love"
Die Gedanken machten Hermann Hesse übrigens auch in Indien beliebt, bei Germanisten an den Universitäten dort unmittelbar, aber auch später bei der anti-autoritären, linken Naxal-Bewegung etwa. Bewusst in den letzten Jahren vor dem Jubiläum wurde „Siddhartha“ in mehrere indische Sprachen übersetzt wie Urdu und Bengali, Malayalam und Punjabi.
In Wohlstandswesten samt Yoga-Trend (wo „Eat Pray Love“ nun Bestseller und Blockbuster wird), ist die Aktualisierung eher unbewusst, Erscheinung von Gesellschaften in einer Pubertät, deren Konflikte sich beispielhaft an den Mannsbildern zeigt. Mit dem Blick der Deutschen Romantik auf die indische Spiritualität wollte Hermann Hesse darin damals die mögliche Rettung für moderne Gesellschaft erkennen. Ob nerdige Alpha-Softies der Großstädte heute die Welt retten? Oder sich selbst?