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Gesellschaft: Die wahre Zeitenwende: Warum wir jetzt am Ende der Moderne stehen

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Die wahre Zeitenwende: Warum wir jetzt am Ende der Moderne stehen

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    Das Unheil kommt gewiss: In „The Day After Tomorrow“ setzte Regisseur Roland Emmerich 2004 die Klimakatastrophe in Szene. Derzeit arbeitet er an einer Fortsetzung.
    Das Unheil kommt gewiss: In „The Day After Tomorrow“ setzte Regisseur Roland Emmerich 2004 die Klimakatastrophe in Szene. Derzeit arbeitet er an einer Fortsetzung. Foto: Twentieth Century Fox

    Ziemlich genau vier Monate liegen zwischen dem letzten, sehr deutlichen Klima-Alarm des Club of Rome an die Welt und der aktuellen Auseinandersetzung zwischen Klimaaktivisten und Polizei um den fortgesetzten Kohleabbau im Dörfchen Lützerath. Global wie lokal ist die Reaktion der Politik: Der Versuch, weiter so gut es geht zu managen – was, so wusste schon der Vordenker der (Welt-)Risikogesellschaft Ulrich Beck, eher das Gegenteil einer Lösung ist. Und diese Lösung durch Aufschieben nur noch dringlicher werden lässt. Wie lange aber können wir die konsequente Umkehr noch aufschieben?

    Ob wir es nun zur Kenntnis nehmen wollen und uns dem stellen oder nicht: Überhaupt zu meinen, wir hätten noch Zeit, wir wären nicht inmitten einer allumfassenden Zeitwende, ist bloße Illusion. Das ist der nüchterne Befund des Soziologen Philipp Staab. Denn längst finde eine Transformation statt, die einen Epochenbruch bedeute: das Ende der Moderne!

    Humboldt-Professor Philipp Staab: Anpassung wird zum neuen Leitmotiv

    So lautet die Analyse im aktuellen Buch des Berliner Humboldt-Professors: "In der Moderne dominierte der Glaube, die Welt ließe sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen. Erderwärmung, Wachstumskrise und subjektive Überlastungen haben diesen Optimismus erschüttert. Heute geht es in erster Linie darum, die Katastrophe abzuschwächen. Und selbst wenn es gelingen sollte, werden wir mit dem Wandel umgehen müssen. Fragen der Selbsterhaltung überlagern dann jene der individuellen und kollektiven Selbstentfaltung. Anpassung wird zum Leitmotiv der Gesellschaft." 

    Und "Anpassung" heißt auch das Werk, das zeigt: Im Zeichen der Selbsterhaltung bleibt uns nur noch die Wahl, wie bewusst wir diese Anpassung unserer individuellen und kollektiven Lebensumstände vornehmen oder wie blind getrieben wir sind. Wobei der Mensch als handelndes Subjekt im Zeitalter der Selbstentfaltung bei aller beispiellosen Erweiterung der Spielräume menschlicher Möglichkeiten ja bereits seine eigene Steuerungsfähigkeit massiv überschätzt habe, so Staab. Stattdessen pflegte der moderne Mensch "ein destruktives Weltverhältnis" und steht nun vor einer durch anhaltende Verdrängung ins Katastrophale angewachsenen Situation.

    In allen Bereichen muss nachjustiert werden: Wirtschaft, Außenpolitik, Sozialstaat

    Etwas, das Ulrich Beck bereits beschrieb: als Rückkehr von (Über-)Lebensfragen als Nebenfolge der Modernisierung, auftretend als nicht mehr zu leugnende Tatbestände. Staab schreitet die Aufgabenfelder ab: "Anpassung des Wirtschaftens an die Fragilität der globalen Lieferketten, Anpassung der Außenpolitik an den Kampf der Weltmächte um Hegemonie, Anpassung des Sozialstaats an die kommenden Herausforderungen. Und Anpassung der Erwartungen von Bürgern, Produzenten und Konsumenten an diese neue Gesamtlage, und das heißt zunächst einmal: Illusionen verabschieden." Beim Klimawandel seien unsere Spielräume ohnehin nur noch begrenzt auf "die abmildernde (Mitigation) und bewahrende (Resilienz) Antizipation von Sachzwängen“ reine Anpassungsreaktionen.

    Eine zu verabschiedende Illusion heißt darum auch: Freiheit. Zumindest im bisherigen Sinne. Denn wenn Freiheit bisher die (Willkür der) Selbstentfaltung meinte, werden auch ihre individuellen Spielräume künftig überhaupt nur noch von unserer Fähigkeit zur kollektiven Anpassung bestimmt. Man könnte das universelle Verantwortung nennen. Und eine, die damit wie zwischen Einzelnen und Gesellschaft auch zwischen Einzelstaaten und der Welt infrage steht. Sofern Nationen des Wohlstandswestens ihrer Privilegien des inneren Friedens wegen noch meinen, bewahren zu müssen, werden sie damit die Folgen für andere verschärfen und äußere Konflikte schüren. 

    Wie schon der Club of Rome voraussah

    Das war auch Teil im Fahrplan namens "ein Survivalguide für unseren Planeten", den der Club of Rome vorgestellt hat. Mit einer großen Zeitenwende in fünf Kehrtwenden, darunter: endgültige, möglichst sofortige und vor allem komplette Ablösung der fossilen durch regenerative Energien; und die Finanzierung der Maßnahmen gegen den Klimawandel durch die reichsten zehn Prozent innerhalb der Länder, um das Kippen der Gesellschaften zu vermeiden, und auch global durch die reichsten zehn Prozent, weil nur durch Umverteilung die allen gemeinsame Katastrophe und auf dem Weg dorthin drohende Konflikte und Kriege verhindert werden könnten.

    Und das führt nun auch wieder nach Lützerath. Denn Triebfeder zur Umsetzung der notwendigen Anpassung ist eine Generation, die inzwischen schon „Kinder der Apokalypse“ genannt wird und sich in ihrer Revolte von der letzten dadurch wesentlich unterscheidet, dass sie nicht für irgendwelche Utopien streitet, sondern für die zur Verhinderung der wirklich werdenden Dystopie kämpft. Sie "gewinnen aus der existenziellen Bedrohung ihre Mobilisierungskraft", so Staab, und: "Ideologiekritische Stimmen, die das Primat der Selbstentfaltung bis in die Gegenwart verlängern wollen, erkennen richtig: Für die Klimabewegung stellt sich weniger die Frage nach dem Wie als vielmehr jene nach dem Ob der Zukunft."

    Der "uralte Begriff des Gemeinwesens"

    Genau dieser Bewegung und ihrem Ringen, ihrem notwendigen Anwachsen zur Mehrheit hat der im vergangenen Oktober gestorbene Bruno Latour sein Vermächtnis gewidmet. Im „Memorandum“ genannten Buch "Zur Entstehung einer ökologischen Klasse" sieht auch der große französische Soziologe das Schicksal der Menschheit vor der Aufgabe: "Die entscheidende Wende besteht darin, der Aufrechterhaltung der Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten Priorität einzuräumen und nicht der Entwicklung der Produktion.

    Und Latour meint auch: "Fasst man die gegenwärtige Situation zusammen, kann man sagen, dass mittlerweile die ganze Welt verstanden hat, dass entschiedenes Handeln nötig wäre, um der Katastrophe Einhalt zu gebieten, es dafür aber an Mittlern, an Motivation, an Führung fehlt." Und er hofft, dass dazu aus den Bewegungen der Klimaaktivisten etwas wächst: "das Neue Klimaregime zwischen den Generationen", basierend auf Vernunft, vereint im Ringen um die Bewohnbarkeit des Planeten. Mit Blick auf all die Konflikte – siehe "Klimaterroristen", siehe Lützerath – seufzt Latour regelrecht: "Könnten wir doch nur diesen uralten Begriff des Gemeinwesens wieder zurückholen – dann könnten wir sogar auf das Label 'Ökologie' verzichten."

    Insofern auch interessant, wer bei Philipp Staab ebenso wesentlich wie die Klimabewegten an der Schwelle zur nächsten Gesellschaft ist: die "systemrelevant" Beschäftigten in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Sicherheit, Infrastrukturen, Logistik und Versorgung. Ihre Notwendigkeit bedeutet auch die Notwendigkeit eines gegen Lobbys und Parteipolitik durchsetzungsfähigeren Staates, der Zukunftsfähigkeit in "vertikaler Autorität" effektiv organisiert … Willkommen am Ende der Moderne, willkommen in einer neuen Welt?

    Die Bücher

    • Bruno Latour und Nikolaj Schultz: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Suhrkamp, 93 Seiten, 14 Euro.
    • Philipp Staab: Anpassung – Leitmotiv der nächsten Gesellschaft. Suhrkamp, 240 Seiten, 18 Euro.
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