Wenn am Freitag, 9. Februar, der in Köln lebende Gerhard Richter seinen 92. Geburtstag begeht, dann steht – einerseits – Neues aus seiner Hand kurz vor Vollendung und wird – andererseits – eine monumentale, frühe Wandmalerei seiner Laufbahn langsam wiederentdeckt, nämlich durch Teil-Freilegung tief unter elf Farbschichten. Diese Farbschichten hatten sich peu à peu seit 1979 angesammelt, als in der ehemaligen DDR die öffentliche Präsentation der Wandmalerei eines einstigen Republikflüchtlings, der im Westen von Ehrung zu Ehrung eilte, alles andere als opportun war: Etliche Jahre zuvor nämlich schon, 1972, hatte Richter die erste seiner acht Documenta-Teilnahmen bestritten und den deutschen Pavillon auf der venezianischen Kunst-Biennale mit 48 Porträts berühmter Männer ausgestaltet. Und sein malerischer Stern setzte zu immer neuen Höhenflügen an.
Zu dieser Wandgemälde-Freilegung später mehr; erst einmal zum entstehenden Neuen aus Richters Atelier: Am 28. Februar wird in Oswiecim, in unmittelbarer Nähe des nationalsozialistischen Ermordungslagers Auschwitz-Birkenau also, ein Ausstellungsgebäude auf dem Gelände der Internationalen Jugendbegegnungsstätte eingeweiht, das Richter nicht nur selbst entworfen hat (Ausführung: GMS Architekten, Isny), sondern auch mit eigenen Werken zum Thema Holocaust ausstattet.
Gerhard Richter versuchte 2014, den NS-Massenmord ins Bild zu setzen
Zur Erinnerung: Nach mehreren abgebrochenen künstlerischen Anläufen vor der Jahrtausendwende versuchte Richter 2014 noch einmal, den nationalsozialistischen Massenmord ins Bild zu setzen. Er begann – stark vergrößernd – vier Fotografien abzumalen, die 1944 von Birkenau-Häftlingen heimlich und unter Todesgefahr aufgenommen wurden, um das Verbrechen der Nazis zu dokumentieren. Doch auch bei diesem Versuch kam der Künstler erneut zu der Auffassung, dass er persönlich den Holocaust nicht gegenständlich ins Bild und das Unfassbare derart nicht fassbar machen könne – weswegen er dann die vier skizzierten Großformate abstrakt übermalte.
Heute bilden sie – gleichsam als vier Bildverweigerungen – lastende, verschlossene, abweisende, schroff-abgründige Hauptstücke seiner späten Werkphase. Die Originale von "Birkenau" werden künftig im Obergeschoss des im Bau befindlichen Berliner "Museums des 20. Jahrhunderts" als Stiftungsgabe hängen; doch Richter hat von dem Zyklus auch eine Foto-Edition auf Metall anfertigen lassen, von denen nun eine in Oswiecim zu sehen sein wird – zusammen mit Kopien der vier zugrunde liegenden Häftlingsfotos sowie einem acht Meter breiten, grauen Spiegel.
Wie steht Gerhard Richter zur Freilegung seines übermalten Frühwerks?
Richter selbst erklärte zu dem kurz vor der Einweihung stehenden Ausstellungsgebäude: "Auschwitz/Oswiecim ist der richtige Ort, an dem diese Werke, dieses Ensemble, in einem eigenen Bau permanent gezeigt werden. Es gibt noch viele andere Orte dieses Grauens, aber Auschwitz ist als Name zum Symbol für sie alle geworden und muss daran erinnern. Und für mich ist dies alles auch eine Auszeichnung, ein Trost und auch das Gefühl einer erledigten Aufgabe."
Was aber nun hat es mit der Freilegung des monumentalen Wandgemäldes auf sich? Springen wir in die Frühphase von Richters Laufbahn. Es war 1956, als der gebürtige Dresdner sein Studium in der Wandmalerei-Klasse der Dresdner Kunstakademie durch ein gut 60 Quadratmeter großes Kasein-Gemälde auf Gipsputz für das Foyer des ortsansässigen Hygiene-Museums beendete. Dargestellt wurden von ihm Figurengruppen im (Freizeit-)Alltag, eine dreiköpfige Familie, ein Kinderspiel im Kreis, Badende, ein Liebespaar, junge Menschen, die – wie bei Édouard Manet – in der Natur rasten. Ohne Zweifel ein freundliches, positives Bild vom und für den Sozialismus, eine Heile-Welt-Propaganda. Der Titel: "Lebensfreude". Richter erhielt für die Arbeit die Diplom-Note 1, dazu drei Jahre lang ein Atelier in der Kunstakademie Dresden sowie eine finanzielle Unterstützung.
23 Jahre überlebte die ungetrübt-reine Wandmalerei, dann wurde sie erstmals mit (weißer) Farbe übertüncht. Da lebte, arbeitete und lehrte Richter längst in Düsseldorf und hatte dem "sozialistischen Realismus" einen "kapitalistischen Realismus" gegenübergestellt. Denn schon 1961 war er über ein Aufnahmelager nahe Gießen in den Westen geflohen. Von der einstigen Bestbewertung für das Dresdner Wandbild, von dem heute nur Schwarz-Weiß-Aufnahmen bekannt sind, nahm man jedenfalls 1979 amtlicherseits unmissverständlich Abstand. Es sei dieser studentischen Arbeit "keine künstlerische Bedeutung" beizumessen. Im selben Atemzug wurde auf die Republikflucht Richters verwiesen.
Gerhard Richter hatte von seinem Frühwerk demonstrativ Abstand genommen
1994 dann, also nach der Wende, kamen jedoch erste Überlegungen auf, das Wandgemälde wieder freizulegen. Doch nun war es Richter selbst, der sein Frühwerk weiter überweißelt wissen wollte. Er lehnte eine Anfrage auf Freilegung ab, was kaum verwundern konnte: Hatte er doch von seinem Frühwerk aus ästhetischen und politischen Gründen explizit Abstand genommen, beginnt sein offizieller Werkkatalog doch erst mit einem – teilweise – übermalten Tisch von 1962.
Jetzt aber neuerliche Wende: Seit Ende 2023 werden im Dresdner Hygienemuseum sogenannte "Sichtfenster" auf Richters "Lebensfreude" freigelegt, also Ausschnitte des Wandbilds – wie etwa eine badende junge Frau. Rund tausend Quadratzentimeter schafft jeder der beiden Restauratoren pro Tag; das Projekt, öffentlich zu besichtigen bei der Arbeit, wird über Wochen laufen – und zwar im Zusammenhang mit der Sonderausstellung "VEB Museum. Das Deutsche Hygiene-Museum in der DDR" (ab 9. März). Und eben dieser Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Hausgeschichte ließ Richter auch zustimmen zu einer Freilegung in Teilen.
Und so werden nun in Dresden nicht nur Sichtfenster geöffnet auf einen bedeutenden historischen Zeitabschnitt des Hygiene-Museums (nach Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus), sondern auch Sichtfenster auf eine politisch und ästhetisch immer wieder überraschend neu bewertete Kunst.