Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Georgien am Scheideweg: Parlamentswahlen entscheiden Zukunft

Interview

Stefan Tolz: „Die Situation in Georgien könnte sich entwickeln wie 2020 in Belarus“

    • |
    • |
    Stefan Tolz in Tiflis: In Deutschland gilt er als einer der größten Kenner des Südkaukasus.
    Stefan Tolz in Tiflis: In Deutschland gilt er als einer der größten Kenner des Südkaukasus. Foto: Lukas Reinhardt

    Herr Tolz, sie haben vor unserem Interview ihr Handy ausgeschaltet. Zur Sicherheit, haben sie gesagt, „damit hier niemand mithört.“ Wer möchte mithören?
    STEFAN TOLZ: Wie die Leute heißen, weiß ich nicht. Tatsächlich bemerke ich auf meinem Telefon aber immer wieder seltsame Aktivitäten. Gespräche enden abrupt, Personen sind plötzlich nicht mehr erreichbar. Ich entdecke Programme, die ich nicht installiert habe. Inzwischen schalte ich das Telefon lieber aus, etwa wenn ich im Freundes- und Bekanntenkreis Unterhaltungen über politische Themen führe.

    Sie haben sich um den kulturellen Austausch mit Deutschland verdient gemacht. Dafür wurde Ihnen die georgische Staatsbürgerschaft verliehen. Werden Sie heute als Systemkritiker wahrgenommen, der überwacht werden muss?
    TOLZ: Wirklich frei fühle ich mich hier nicht mehr. Ich habe viele Filme über das Land gemacht, auch über politisch brisante Themen. In meinem letzten Dokumentarfilm („Georgiens Hafen der Hoffnung“, Anm. d. Red) ging es um den Bau eines Tiefseehafens in Anaklia am Schwarzen Meer, der Georgien wirtschaftlich enger mit dem Westen verbinden und das Land als Handelspunkt zwischen Europa und Asien etablieren sollte. Und zwar unabhängig von Russland. Über fünf Jahre hinweg habe ich dafür den georgischen Geschäftsmann Mamuka Khazaradze begleitet, der sehr gut mit der Regierung vernetzt war, jedoch plötzlich politisch in Ungnade gefallen ist.

    Wieso das?
    TOLZ: Er wurde wegen vermeintlicher Geldwäsche angeklagt. Die Vorwürfe kamen auf, als sein Konsortium begann, Verhandlungen mit internationalen Investoren zu führen.

    Ursprünglich hätte der Hafen mithilfe der Amerikaner gebaut werden sollen, nun ging das Projekt an China. Russland sieht das sicher gerne.
    TOLZ: Richtig. Heute ist Khazaradze, der bei der Parlamentswahl antritt, einer der bedeutendsten Oppositionspolitiker des Landes und Kopf der prowestlichen Partei „Lelo“. Der Film, in dem es auch um geopolitische Machtfragen geht, hat sich zu einem wahren Doku-Thriller entwickelt. Er lief kürzlich das erste Mal im georgischen Fernsehen. All das sorgt dafür, dass ich für die Sicherheitsbehörden kein Unbekannter bin.

    Sie sind vor wenigen Tagen aus München zurückgekehrt. In welcher Stimmung hat Sie die Hauptstadt so kurz vor der Wahl empfangen?
    TOLZ: Man spürt eine Anspannung, wie ich sie vorher kaum erlebt habe. Niemand weiß, was am Wahltag und in den Wochen danach wirklich passieren wird. Was wir wissen: Die Regierungspartei hat in diesem Jahr klargemacht, wohin die Reise gehen wird. Der „Georgische Traum“ will keine offene und vielfältige Gesellschaft mehr, wie wir sie in Europa leben. Er strebt eine Rückkehr zu den sogenannten traditionellen Werten an, oft angelehnt an die der orthodoxen Kirche. Und er will den Spielraum von Opposition und Zivilgesellschaft einschränken. Das sogenannte „Agentengesetz“ nach russischem Vorbild, das kritische Organisationen mundtot machen soll, ist dafür nur ein Beispiel. Es gibt eine ganze Reihe weitere Beschlüsse, die zeigen, dass das jetzige Regime Georgien künftig ähnlich steuern möchte wie Wladimir Putin Russland.

    Arbeit an den letzten Projekten? Der Filmemacher sitzt in einem Schnittraum in der georgischen Hauptstadt.
    Arbeit an den letzten Projekten? Der Filmemacher sitzt in einem Schnittraum in der georgischen Hauptstadt. Foto: Lukas Reinhardt

    Wird der 26. Oktober auch eine Abstimmung darüber, wie frei Kunst und Kultur in Georgien künftig sein werden?
    TOLZ: Sicher, der „Georgische Traum“ hat in den vergangenen Jahren bereits versucht, den Kultursektor auf Regierungskurs zu bringen.

    Wie das?
    TOLZ: Die ehemalige Kulturministerin, Tea Tsulukiani, hat beispielsweise gefordert, der georgische Film müsse „das Positive des Landes herausstellen“. Damit droht Kunst aber, zur Propaganda der Regierungspartei zu verkommen. Das ist mit meinem Grundverständnis unvereinbar. Ein Staat muss gerade in Kunst und Kultur auch Dinge aushalten, die Politikerinnen und Politikern nicht gefallen.

    Wie wichtig ist das Kino für Georgien?
    TOLZ: Georgien hat eine lange Filmgeschichte, nicht nur als Kulisse wegen seiner landschaftlichen Vielfalt und Schönheit. Eines der ältesten Kinos der Welt steht in Tiflis. In der Sowjetzeit gab es ein riesiges Studio, in dem viele Filme produziert wurden, das nach dem wirtschaftlichen Niedergang in den 1990er-Jahren in die Krise stürzte. Inzwischen kommen wieder zahlreiche ausländische Produktionen in das Land. Auch ist seit einigen Jahren vom Neuen Georgischen Film die Rede. Dem unabhängigen Film fehlt es allerdings oft an finanziellen Mitteln. Die Produktionen brauchen Geld, auch von der georgischen Filmförderung.

    Eine Abhängigkeit, die politische Einflussnahme ermöglicht.
    TOLZ: Die georgische Filmförderung, die lange Zeit weitgehend unabhängig war, wird zunehmend politisch instrumentalisiert. Vor einem Jahr wurde dem Internationalen Filmfestival von Tiflis die staatliche Unterstützung gekürzt. Der Druck auf den Kultursektor bleibt hoch. Das könnte sich nach der Wahl verschärfen.

    Sie besitzen den georgischen Pass. Gehen Sie wählen?
    TOLZ: Natürlich.

    Für wen werden Sie stimmen?
    TOLZ: Das steht noch nicht fest.

    Bleiben Sie in Georgien, egal wie die Wahl ausgeht?
    TOLZ: Ich fürchte, dass sich die Situation in Georgien entwickeln könnte wie 2020 in Belarus. Dass Leute auf offener Straße zusammengeschlagen und verhaftet werden. Die Regierungspartei hat angekündigt, die größte Oppositionspartei verbieten zu wollen. Man sucht Vorwände, um politische Gegner einsperren zu lassen. Angesichts dieser drohenden Unfreiheit frage ich mich, ob ich hier wirklich noch leben und arbeiten möchte. Vielen befreundeten Kunst- und Kulturschaffenden geht es ähnlich wie mir.

    Das klingt nach Abschied.
    TOLZ: Ich arbeite seit Jahren an zwei Filmprojekten, die sich um eine legendäre georgische Limonade drehen. Der Mensch, der die meisten Limonadenrezepte der Welt entwickelt hat, war ein Georgier. In den 1950er Jahren soll er von Stalin persönlich den Auftrag bekommen haben, ein besseres Erfrischungsgetränk herzustellen als die amerikanische Coca-Cola. Diese beiden Filme sind vermutlich mein Abschied.

    Wie fühlen Sie sich dabei?
    TOLZ: Ich habe in den vergangenen 34 Jahren miterlebt, wie Georgien frei und unabhängig wurde und sich in Richtung Europa entwickelte. Das war eine großartige Zeit. Umso trauriger macht es mich, die heutige Entwicklung des Landes zu sehen. Dass es wieder Teil eines Sowjet- oder Russ-Imperiums werden könnte. Für mich geht es nach dem 26. Oktober zurück nach Deutschland, vorerst ohne Rückflug nach Tiflis.

    Zur Person

    Stefan Tolz, Jahrgang 1966, ist deutscher Regisseur und Produzent. Er kam erstmals 1990 als Münchner Filmstudent nach Georgien. Wenige Jahre später erschien sein erster Dokumentarfilm mit dem Titel „Kaukasisches Gastmahl“, der sich mit dem Land, seinen Menschen und Bräuchen befasst. Für seine Arbeit erhielt Tolz zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Adolf-Grimme-Preis und den deutschen Filmpreis.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden