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Literatur trifft Fußball: Autor Moritz Rinke im Interview

Fußball-EM

Moritz Rinke im Interview: "Tore sind auf dem Platz wichtiger als Bücher"

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    Kickende Literaten: Der israelische Spieler Nachum Pachenik (rechts) verfolgt den Deutschen Moritz Rinke im Kampf um den Ball bei einem Spiel 2008 auf dem Olympiagelände in Berlin.
    Kickende Literaten: Der israelische Spieler Nachum Pachenik (rechts) verfolgt den Deutschen Moritz Rinke im Kampf um den Ball bei einem Spiel 2008 auf dem Olympiagelände in Berlin. Foto: Arno Burgi, dpa

    Herr Rinke, sie sind nicht nur Dramatiker und Romanautor, sondern auch Fußballspieler, nämlich als Mitglied der deutschen Autorennationalmannschaft. Was ist das für eine Mannschaft?
    MORITZ RINKE: Das ist eine offizielle Mannschaft des Deutschen Fußballbundes, die 2005 gegründet wurde. Wir hatten durch den DFB immer wieder die Möglichkeit, Scouts in verschiedenen Ländern zu engagieren, die dort Mannschaften zusammenstellten, gegen die wir dann gespielt haben. Zur Frankfurter Buchmesse etwa haben wir als Gegner immer eine Mannschaft aus Autoren des jeweiligen Gastlandes zusammengetrommelt. 

    Literatur und Fußball liegen also nicht so weit auseinander. Wie kommt das?
    RINKE: Das hängt damit zusammen, dass der Fußball gesellschaftsfähiger geworden ist, Fußball galt den Intellektuellen ja meist als Proletensache, man rümpft also nicht mehr so sehr die Nase, es sei denn wegen der kriminellen Energie der Fifa-Machenschaften im globalisierten Weltfußball. Aber eigentlich sind Fußball und Schreiben etwas Grundverschiedenes. Allerdings beschert uns Autoren der Fußball ein tolles Geschenk, er ist so eine Art Ablenkungsmanöver. Normalerweise sind nämlich bei einer Zusammenkunft von drei Autoren ja schon zwei zu viel. Der Fußball aber umschifft unseren Narzissmus, Tore sind auf dem Platz wichtiger als Bücher.

    Sie spielen in der Autorennationalmannschaft als Stürmer und Rekordtorschütze. Liegt Ihnen diese Rolle? Denn eigentlich wollten sie ja lieber Torwart werden?
    RINKE: Das war ganz früher. Als Kreisauswahltorwart war ich tatsächlich auch eine große Hoffnung des Landkreises Osterholz-Scharmbeck. Und stolz war ich auch, ich wollte Nationaltorwart werden. Aber dann wechselte ich von der D-Jugend, wo man noch mit kleinen Toren spielt, in die C-Jugend. Da spielt man mit den großen Toren und ich kam nicht mehr an die Latte. So wurde ich Stürmer und dann wuchs ich und stürmte. Aber mein Sohn ist jetzt Torhüter und wird beim Berliner SC sogar von Nico Pellatz trainiert, einem ehemaligen Bundesligatorwart. 

    Die dramatischen Qualitäten eines Fußballspiels wird kein Fußballfan bestreiten, aber wie ist der Blick des Dramatikers darauf? Welche Geschichten erzählt ein Fußballspiel?
    RINKE: Der Fußball erschafft ja ständig Heldengeschichten. Es gibt den durch ein Spiel neugeborenen Helden, den tragischen, den fallenden, ja, lauter dramatische Fallhöhen bieten der Fußball, wie in einem guten Drama. Das hat aber nichts zu tun mit dem viel zitierten "Lesen eines Spiels". Da geht es eher um Taktisches. Wie teilt sich der Raum auf, wie stehen die Ketten, gibt es zwei Sechser oder eine, eine hängende Spitze oder einen zentralen Stürmer. Es soll ja mal ein legendäres Treffen von Pep Guardiola und Thomas Tuchel in München im "Schumans" gegeben haben, bei dem die beiden ihre Spielsysteme auf Papiertischdecken gezeichnet haben. Das hat schon kulturelle Dimensionen!

    Ist es das, was diese Sportart literarisch so attraktiv macht?
    RINKE: Es gibt zum Beispiel immer wieder die Sehnsucht des Theaters, etwas von dieser Elektrifizierungskraft des Fußballs zu haben, die sogenannte vierte Wand zwischen Bühne und Publikum zu durchbrechen, das schafft ja der Fußball. 

    Also die Barriere, die es zwischen Akteuren und Zuschauenden gibt?
    RINKE: Ja, genau. Deshalb liebte Brecht Boxen, die Leidenschaft aller in der Manege. Fußball schafft diese Verschmelzung von Bühne und Publikum, das haben wir zum Beispiel beim Spiel der türkischen Mannschaft in Dortmund erlebt, als die Fans das Stadion in einen Hexenkessel verwandelten und die türkischen Fußballer geradezu vom Publikum durch das Spiel getragen wurden. Danach sehnen sich die Künstler, dass so etwas entsteht. Im Fußball kommt außerdem etwas dazu, das wir in der Kunst kaum haben, nämlich der Zufall. Im Theater lernen wir alles auswendig, aber im Fußball gibt es bei aller taktischen Strategie, bei allem Training, bei allen einstudierten Standards immer wieder das Unvorhersehbare. Der Ball fliegt eben doch manchmal so wie er will. Und dadurch entstehen Wunder und Magie. 

    In Ihrem Buch "Ich könnte stundenlang hier sitzen und auf den Rasen schauen" versammeln Sie Liebeserklärungen an den Fußball. Wie kommt es, dass Sie so Feuer gefangen haben für diese Sportart, dass Sie einmal sogar versucht haben, die Beine von Klaus Fischer zu berühren, mit denen er seine legendären Fallrückzieher schoss?
    RINKE: So etwas beginnt als Kind, es war vielleicht die erste selbstgemachte Leidenschaft, die erste große Liebe. Oh, Klaus Fischer. Ich liebte seine Fallrückzieher, ich habe sie auf den weichen Moorwiesen im Teufelsmoor nachzuahmen versucht. Tage- und monatelang, nachdem ich eines dieser berühmten Fischer-Tore gegen die Schweiz gesehen hatte. Ich hatte mir dieses Jahrhunderttor immer wieder auf VHS-Kassetten angesehen. Bei der Gala zur Eröffnung des deutschen Fußballmuseums in Dortmund, über die ich für eine Zeitung schreiben sollte, saß ich dann plötzlich neben Klaus Fischer und überlegte, wie ich möglichst unauffällig meinen Stift fallen lasse, um dann, rein zufällig natürlich, sein Schussbein zu berühren. So ein Verhalten ist natürlich nur mit dieser kindlichen Leidenschaft erklärbar. Fußball ist ja ohnehin die Verlängerung der Kindheit ins Erwachsenenleben. 

    Wie erleben Sie die heutige Kindergeneration, Sie sind Vater eines neunjährigen Sohnes, der als Torwart spielt? An den VHS-Kassetten seines Vaters wird der keine Freude mehr haben.
    RINKE: Auch nicht an dem Sepp-Maier-Torwartbuch, das ich als Kind so zerlesen habe, dass ich die Seiten mit Tesafilm kleben musste. Es ist eine andere Form von Leidenschaft. Bei uns war es die Vorfreude auf die Fußballspiele, die viel seltener stattfanden, wenn ich es überhaupt wegen Schule am nächsten Tag sehen durfte. Was für eine Freude, wenn ich durfte, allerdings im bettfertigen Zustand, "bettfein" hieß es! Und was für eine Vorfreude, dann die Zähne zu putzen, den Schlafanzug anzuziehen und dabei schon die Nationalhymnen zu hören. Heute ist der Fußball leider viel verfügbarer geworden. Auch durch diese schrecklichen Fußballsimulationen wie Fifa-Mobile, die vermutlich noch verführerischer sind, als nur einem Spiel im Fernsehen zuzuschauen. Ich sage immer zu meinem Sohn: In deiner Simulation sind die Bewegungen unnatürlich, davon lernst du nichts, so erfährst du nichts über den Fußball. Genauso wenig wie aus den Videos der Youtuber, in denen man hören kann, wie viel Geld Messis Leibwächter in der Stunde verdient und welches Auto Luca Modric fährt. Einen Bentley, wie mir mein Sohn erzählt hat. Ich hielt Modric immer für einen bescheidenen Sohn eines kroatischen Ziegenhirten.

    In Anlehnung an den Titel Ihres Buchs: Wie viele Stunden verbringen Sie denn nun aktuell, um auf den Rasen zu schauen?
    RINKE: Bis auf drei Spiele habe ich bisher alles verfolgt. Aber es sind ja auch nicht immer alle Spiele so großartig, wie das der Türkei gegen Georgien. Oder das der Deutschen gegen die Schotten.

    Wie beurteilen Sie die Chancen der deutschen Mannschaft bei dieser Europameisterschaft?
    RINKE: Was in der Mannschaft offenbar stimmt, ist der Geist, der Spirit, das ist ja neben allen spielerischen Qualitäten, die man ja auch voraussetzen muss, das Wichtigste bei einem Turnier. Und es wird gelacht, das ist das Allerwichtigste. Allerdings muss man jetzt eine Entscheidung treffen. Gegen die Schweiz vielleicht Kräfte schonen, die Mannschaft rotieren lassen? Bei einem Sieg gegen die Schweiz und Platz 1 in der Gruppe A würde im Viertelfinale Spanien warten, die halte ich für das stärkste Team bei der EM. Als zweiter der Gruppe A würde man eventuell auf England treffen, das ist viel einfacher. Also, das ist jetzt etwas knifflig. Entweder mit dem Siegesschwung weiter ins Achtel- und Viertelfinale oder eben etwas taktischer. Warum haben die Deutschen 1974 bei der WM im eigenen Lande gegen die DDR 0:1 verloren? Weil sie wussten, dass sie so eher ins WM-Finale kommen. Aber vielleicht ist es auch richtiger, in Schönheit gegen

    Zur Person

    Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, ist ein in Berlin lebender Dramatiker und Romanautor. Rinke ist aktives Mitglied der deutschen Autorennationalmannschaft, zudem Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur. Sein neustes Buch vereint Fußballgeschichten unter dem Titel "Ich könnte stundenlang hier sitzen und auf den Rasen schauen" (224 Seiten, Kiwi-Taschenbuch, 14 Euro). Außerdem hat er eine Erzählung zum Kinderbuch "Dribbel. Pass. Tor! 13 spannende Vorlesegeschichten für kleine Fußball-Fans" (128 Seiten, Carlsen Verlag, 16 Euro) beigetragen.

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