Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Forschung: Wenn Historiker die Geschichte umdeuten wollen

Forschung

Wenn Historiker die Geschichte umdeuten wollen

    • |
    Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) hat sich mit der Vergangenheit der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) auseinandergesetzt. Das ZFI veröffentlicht eigene Schriften.
    Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) hat sich mit der Vergangenheit der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) auseinandergesetzt. Das ZFI veröffentlicht eigene Schriften. Foto: Verena Vogt, Ifz

    Das Aufsehen war groß, als im Juli 2020 bekannt wurde, dass das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz seinen Bericht für das Jahr 2019 nicht verbreiten durfte. Die Zeitgeschichtliche Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) hatte erfolgreich gegen die Nennung als rechtsextremistische Organisation geklagt. Unsere Redaktion fragte daraufhin beim Institut für Zeitgeschichte (IfZ) nach, was es mit dem umstrittenen Verein auf sich habe. Das Forschungsinstitut wusste nichts über die ZFI. Während der Freistaat Bayern Berufung gegen das Urteil des Münchner Verwaltungsgerichts einlegte, begannen die beiden IfZ-Wissenschaftler Thomas Schlemmer und Moritz Fischer im hauseigenen Archiv zu graben – und erhielten im Zuge ihrer Nachforschungen etliche Dokumente aus dem Nachlass des über Jahre wichtigsten Mannes der Organisation.

    Der Aufsatz von Schlemmer und Fischer mit ihren Forschungsergebnissen zur ZFI wird zum Jahreswechsel in der Hauszeitschrift des IfZ, den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (VfZ), veröffentlicht. Unserer Redaktion liegt er bereits vor. Der Aufsatz liefert laut IfZ "erstmals Einblick in die Anatomie der ZFI" und zeigt anhand neuer Quellen, wie der Ingolstädter Verein versucht haben soll, ihre Interpretation der deutschen Geschichte zu verbreiten und die Erinnerung an den Nationalsozialismus zu verdrängen. Die Zeitgeschichtliche Forschungsstelle sollte ein Gegenentwurf zum Institut für Zeitgeschichte sein, wird die FAZ in dem Aufsatz zitiert. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Verein nicht nur der etablierten Zeitgeschichtsforschung geschichtsrevisionistische Positionen entgegensetzen wollte, sondern zudem eine gefährliche Brücke zwischen bürgerlich-konservativem Milieu und Rechtsextremismus schlug.

    Gegründet wurde der Verein 1981

    In dem Aufsatz geht es hauptsächlich um die 1970er- und 1980er-Jahre. Gegründet wurde die Zeitgeschichtliche Forschungsstelle Ingolstadt im Jahr 1981, in erster Linie von dem Ingolstädter Geschichtslehrer Alfred Schickel und dem Erlanger Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, Hellmut Diwald. Schickel, dessen Nachlass Schlemmer und Fischer einsehen durften, wurde zum Vorsitzenden gewählt, Diwald zu seinem Stellvertreter. Die Männer verband einerseits ihre Vergangenheit als Heimatvertriebene aus dem Sudetenland, was Schickel nachhaltig traumatisiert hatte, und andererseits ihr Bestreben, die deutsche Geschichte, die in den 1970er-Jahren immer mehr als Problemgeschichte begriffen wurde, anders zu deuten. 

    Schickel, der zunächst noch Artikel und Rezensionen für renommierte Medien schrieb, verscherzte es sich zunehmend mit etablierten Einrichtungen und Verlagen – Ende der 1990er-Jahre wurde er in mehreren Verfassungsschutzberichten als Geschichtsrevisionist eingestuft. Mit dem IfZ verband ihn zeitlebens eine Art Hassliebe. Irgendwann räumten ihm nur noch dem rechten Spektrum zugehörige Publikationen Platz ein. Auch Diwald manövrierte sich ins wissenschaftliche Abseits.

    Der Verein hatte in den 1990er-Jahren rund 750 Mitglieder

    Dennoch schien die ZFI bei Teilen der Bevölkerung den Zeitgeist zu treffen. Schlemmer und Fischer zufolge hatte der Verein Ende der 1990er-Jahre rund 750 Mitglieder, nicht nur aus Bayern. Außerdem verfügte der Verein durch Mitgliedsbeiträge und Spenden in manchen Jahren wohl über mehr als 100.000 DM, fanden die Autoren heraus. Auch die Stadt Ingolstadt unterstützte den Verein jahrelang mit einem Zuschuss über 2000 DM. 1989 erhielt Schickel den Verdienstorden der Bundesrepublik für seine Verdienste um die zeithistorische Forschung und politische Bildungsarbeit.

    Durch Schickel stand die ZFI immer mit einem Bein im bürgerlich-konservativen Milieu. Er war eng mit der Kirche verbunden und mit der CSU, deren Mitglied er war. Alfred Seidl, nicht nur einstiger bayerischer Innenminister, sondern auch Verteidiger zweier Hauptkriegsverbrecher in den Nürnberger Prozessen, hielt den Eröffnungsvortrag zur Gründung der ZFI. Seidl bekleidete zwar kein Amt innerhalb des Vereins wie Schickel und Diwald, aber er publizierte in den Reihen der ZFI, wie Schlemmer und Fischer schreiben. Die Historiker nennen Seidl eine "Galionsfigur" des Vereins. Horst Seehofer übermittelte 2006, als Bundeslandwirtschaftsminister, anlässlich des 25-jährigen Bestehens der ZFI ein Grußwort.

    In den vergangenen Jahren ist der Verein deutlich nach rechts gerückt

    Schlemmer und Fischer verorten die ZFI in ihrem Aufsatz schließlich an einer Nahtstelle zwischen demokratischem Konservativismus, Neuer Rechter und völkischem Nationalismus. Habe sich die ZFI zur Zeit von Schickel noch in einem Brückenspektrum bewegt, so sei der Verein in den vergangenen Jahren deutlich nach rechts gerückt, sagt Schlemmer im Gespräch mit unserer Redaktion. Heutzutage sei er seiner Meinung nach eindeutig rechtsextrem. In Ingolstadt finden immer wieder Proteste gegen Geschichtsrevisionismus statt, wenn die ZFI zu Tagungen einlädt. Der Verein "Ingolstadt ist bunt" fordert, der ZFI keine städtischen Räumlichkeiten mehr zur Verfügung zu stellen. Der Stadtverwaltung seien aber aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes die Hände gebunden, solange die ZFI nicht im Verfassungsschutzbericht aufgeführt wird, erklärt ein Sprecher der Stadt.

    Der aktuelle Vorsitzende der ZFI, Stefan Scheil, ist Politiker der AfD. Er lebt in der Pfalz und ist Sprecher seiner lokalen Kreistagsfraktion. Er sagt, die ZFI sei schlicht ein gemeinnütziger Verein für politische Bildung. Die Vorwürfe des Verfassungsschutzes hält er für "grotesk". 

    Der Verfassungsschutz hatte 2019 eine recht eindeutige Meinung über die ZFI. Wie Schlemmer und Fischer aus dem Bericht zitieren, führte der Verfassungsschutz die ZFI unter der Rubrik "Sonstige rechtsextremistische Organisationen". Die ZFI publiziere Reden, die "antisemitische beziehungsweise die NS-Zeit verherrlichende Inhalte" streuten, und an ihren Veranstaltungen hätten "einzelne Redner" teilgenommen, "die sich rechtsextremistisch äußerten oder bereits bei Veranstaltungen anderer rechtsextremistischer Organisationen" aufgetreten seien.

    Das Verwaltungsgericht urteilte allerdings: "Tatsächliche Anhaltspunkte für vom Kläger ausgehende verfassungsfeindliche Bestrebungen waren nicht festzustellen", obwohl die ZFI "im verfassungsschutzrelevanten Bereich des Rechtsextremismus und Geschichtsrevisionismus (...) bewusst in Erscheinung getreten ist". Wie der Verwaltungsgerichtshof im Berufungsverfahren entscheiden wird, ist unklar. Ein Termin für das Urteil steht noch nicht fest. 

    Alfred Schickels Sohn Matthias – er sitzt für die CSU im Ingolstädter Stadtrat – ist froh, dass das nicht ganz einfache Erbe seines Vaters von einem seriösen Institut aufgearbeitet wurde, wie er sagt. Zu lange habe man sich im Bereich von Vermutungen und Gerüchten bewegt. Er hofft, dieses Kapitel endlich abschließen zu können. 

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden