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Foto: Nina Westervelt/o.h.
Foto: Nina Westervelt/o.h.

Die Königin ist zurück: Folk-Legende Joni Mitchell bei ihrem überraschenden Auftritt im vergangenen Jahr in Newport.

Folk
03.08.2023

Die Königin ist zurück: Joni Mitchells Comeback "At Newport"

Von Reinhard Köchl

Nach schwerer Krankheit kämpfte sich Joni Mitchell im letzten Jahr wieder auf die Bühne zurück. Den überwältigenden Auftritt gibt es nun auf dem Live-Album "At Newport".

Was ist schon eine Sensation? Wenn es tatsächlich einmal eine Berechtigung gab, ein Attribut wie dieses reinsten Gewissens zu verwenden, dann am 24. Juli 2022. Das, was sich vor etwas mehr als einem Jahr auf der Bühne des Newport Folk Festivals ereignete, war in jeder Hinsicht sensationell, aufsehenerregend, unerwartet und schlicht überwältigend. Es ging um die Rückkehr einer ikonischen, eigentlich schon tot geglaubten Künstlerin, einer Leitfigur für alle musizierenden Frauen im zurückliegenden halben Jahrhundert: Joni Mitchell. Dieses Ereignis ist nun auch dem Live-Album "At Newport" (Rhino/Warner) nachzuvollziehen.

Angekündigt war eigentlich Brandi Carlile, Songwriterin, Sängerin und glühende Verehrerin von Joni Mitchell, deren Geniestreich „Blue“ von 1971 sie einst in Gänze coverte. Die 42-Jährige veranstaltet zu Hause in Los Angeles gelegentlich sogenannte „Joni Jams“, gemeinsame private Musikertreffs, bei denen Stars wie Elton John, Paul McCartney oder Herbie Hancock der größten Singer-Songwriterin aller Zeiten huldigen. Eines Tages schlug Carlile den Newport-Organisatoren geheimnisvoll lächelnd vor, den nächsten Jam einfach öffentlich abzuhalten. An einem historischen Ort, mit anderen Musikern wie dem Dawes-Sänger Taylor Goldsmith, Marcus Mumford von Mumford & Sons, Waylons Jenningsʼ Sohn Shooter, Allison Russell und Wynonna Judd. Ja, okay, das klang nach einem schönen Abend. Aber irgendetwas lag in der Luft, die Gerüchte hatten schon Tage zuvor die Stimmung angeheizt. „Es hat heute nichts mit mir zu tun“, begann Brandi Carlile ihre Begrüßung und bekam ihr Dauergrinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Hinter ihr standen zwei perlmuttbeschlagene goldverzierte Stühle, auf die sich auch gekrönte Häupter ohne zu zögern gesetzt hätten. 

Joni Mitchell ließ sich auf dem Thron nieder und trug 13 Songs vor

Carlile sprach von der größten Ehre ihres Lebens, und dann stand sie plötzlich leibhaftig da, wiegte bestens gelaunt ihre Hüften und ließ sich auf ihrem Thron nieder. Joni Mitchell war zurück, auf der Bühne, im Leben, 79 Jahre alt, 20 Jahre nach ihrem letzten Konzertauftritt. 2015 hatte ein Aneurysma im Gehirn sie nahezu alles vergessen lassen. Umso bewegender war nun dieser Moment. Ihre strohblonden Haare hatte sie zu zwei Zöpfen gebunden, auf dem Kopf trug sie eine schwarze Baskenmütze, eine elegante Sonnenbrille bedeckte die Augen. Mitchells positive, strahlende Aura übertrug sich schlagartig auf die vielen Tausend Menschen. Sie sprühte vor Enthusiasmus, trug gleichermaßen zärtlich wie leidenschaftlich 13 Songs vor und spielte sogar im Stehen Gitarre, etwas, dem sie sich durch YouTube-Tutorials wieder angenähert hatte. Man sah der Frau, deren besonderer Art, die Akkorde zu greifen, sowieso niemand erklären kann, zu und dachte: Echt, das ist sie wirklich!

Und sie sangen gemeinsam, Carlile, die ein bisschen wie die frühe Joni Mitchell mit ihrem glasklaren Sopran klingt, und die gebürtige Kanadierin, die so viel erlebt und durchgemacht hat, die Folk, Jazz und Pop zu einem hymnischen Amalgam verschmolz, das den Soundtrack für den kollektiven Aufbruch der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre bildete, und die ihren eigenen Weg auch für andere öffnete. Mitchells Stimme klang tiefer, reifer, so, als symbolisiere sie die zahllosen Neuanfänge mit immer wieder neuen Idealen, neuen Fehlern. Aber sie stand immer noch da wie ein Fels in der Brandung, intonierte ohne Makel und jonglierte wie früher mit Tremolos. 

"Both Sides Now" ist zur Hymne der LGBTQ-Bewegung geworden

Bei „Both Sides Now“ weinte Carlile. Der Song gehört zu Mitchells bekanntesten; eine Reflexion über die Komplexität des Lebens, der Vorschlag, es aus zwei Blickwinkeln zu betrachten, und längst auch eine Hymne der LGBTQ-Bewegung. In „Case Of You“ erlangten die Zeilen „I Could Drink A Case Of You, And I’d Still Be On My Feet“ angesichts von Jonis Genesung eine neue Bedeutung. Jeder strahlte und genoss die Fahrt im „Big Yellow Taxi“, es gab noch Perlen wie „Shine“, „Just Like This Train“, „The Circle Game“, „Care“ oder „Summertime“. Das war alles andere als ein Nostalgietrip in eine vergangene Zeit, sondern etwas, das durch Joni Mitchells Präsenz schlagartig wieder aktuell, modern und dringlich erschien. 

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Für Joni Mitchell war der Newport-Auftritt nichts weniger als der Start in ihre dritte Karriere. Im vergangenen Juni trat sie wieder im Washington’s Gorge Amphitheatre im Grant County auf. Das Leben hat sie also zurück. Ein Geschenk. Und eine gute Nachricht, die viele schlechte besser ertragen lässt.

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