Filmfestival
22.02.2023

Deutsches Klassentreffen auf der Berlinale: viele Beiträge von "Berliner Schule"

Von Martin Schwickert

Gleich drei der fünf deutschen Beiträge auf der Berlinale stammen aus der stilprägenden "Berliner Schule". Aber haben sie auch Chancen auf den Goldenen Bären?

So viele deutsche Filme wie selten stehen in diesem Jahr auf dem Programm der Berlinale – außerhalb des Wettbewerbs mit dabei auch "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war", der nun in den Kinos anläuft. In seinem Roman gleichen Titels erzählte der Schauspieler Joachim Meyerhoff 2013 von einer mehr als außergewöhnlichen Kindheit und eroberte sich ein breites Lesepublikum. Bestseller-Verfilmungen von geliebten Romanen sind im deutschen Kino oft eine Enttäuschung, weil sie meistens deutlich mutloser daherkommen als ihre literarischen Vorlagen. Aber "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" ist ein echter Glücksfall in diesem Segment und dieser Glücksfall heißt Sonja Heiss, die hier für Regie, Drehbuch und Produktion verantwortlich zeichnet. 

Sonja Heiss ist die ideale Regisseurin für die Verfilmung von Joachim Meyerhoffs "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war"

Sie beweist sich als ideale Regisseurin für Meyerhoffs Roman, in dem das vermeintlich Abnormale zur Normalität einer Kindheit gehört. Ihr Film ist durchdrungen vom warmen Atem der Akzeptanz des Ungewöhnlichen und einem liebevollen Humor, mit dem auf die Familiendynamik im Haus des Leiters einer psychiatrischen Anstalt geblickt wird. Devid Striesow spielt diesen Vater als Vertreter einer Nachkriegsmännergeneration, die sich selbst nicht infrage stellt und das auch bitte schön nicht von anderen erwartet. Gleichzeitig gibt es immer wieder Momente, in denen der Vater seinen Sohn bei der Hand oder auf die Schulter nimmt und ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. Davon kann Mutter Iris nur träumen, die sich vom Leben mehr versprochen hat. Auch sie ist eine typische Vertreterin ihrer Generation, die eigene Pläne für ein unbefriedigendes Hausfrau- und Mutterdasein aufgegeben hat. Laura Tonke spielt diese Frau, die weit unter ihren Möglichkeiten lebt, mit ihrer eigenen hinreißenden Nonchalance. Sie ist wie geschaffen für den wunderbar schrägen Humor und die trockenen Pointen, die diesen Film durchdringen. Genau wie Meyerhoffs Roman lebt auch diese liebevoll inszenierte und ausgestattete Adaption von einem sicheren Gespür für Tragikomik, in der die emotionalen Momente nicht einfach weggelacht werden, sondern im kontrastreichen Einklang mit dem Humor stehen. 

Trailer zu "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war"

Wie ein Klassentreffen nimmt sich aus deutscher Sicht der diesjährige Wettbewerb der Berlinale aus. Gleich drei der insgesamt fünf deutschen Filme im Rennen um den Goldenen Bären können der "Berliner Schule" zugerechnet werden – jener stilprägenden Richtung des deutschen Kinos, die mit formaler Strenge und unkonventionellen, verknappten Erzählformen seit den 90ern auch auf internationalen Festivals große Aufmerksamkeit bekommen hat. Christian Petzold, Angela Schanelec und Christoph Hochhäusler bilden das schulische Dreigestirn. 

Eine Fremde bewohnt das Ferienhaus in Christian Petzolds "Roter Himmel"

Mit „Roter Himmel“ ist Christian Petzold nun schon zum sechsten Mal im Wettbewerb. Im Wald unweit des Ostseestrandes steht das Ferienhaus der Familie, in dem Felix (Langston Uibel) seine Bewerbungsmappe für das Fotografie-Studium und sein Freund Leon (Thomas Schubert) den zweiten Roman fertigstellen wollen. Aber das Haus ist bereits von einer Fremden bewohnt. Die Waschmaschine läuft, die Lasagne von gestern steht auf dem Tisch, Handtücher hängen über den Stühlen zum Trocknen. Dass Leon schon nach der ersten Begegnung mehr als fasziniert von ihr ist, versucht er ungelenk zu verbergen. Während die Emotionen in und ums Ferienhaus zu schwelen beginnen, brennen die Wälder dreißig Kilometer weiter schon lichterloh. Durchdrungen von unaufdringlichem Humor lässt Petzold die äußeren und inneren Ereignisse kulminieren. Im Zentrum steht dabei die tief verunsicherte Männerseele des kriselnden Autors, den Thomas Schubert wunderbar linkisch verkörpert. Seinem temporären Vorbild Eric Rohmer kommt Petzold mit "Roter Himmel" sehr nah, auch wenn dieser konzentriert inszenierte Sommerfilm durchaus tragische Implikationen entwickelt. 

Von einer solchen erzählerischen Nonchalance ist Angela Schanelecs neuer Film "Music" weit entfernt. Die Regisseurin, die 2019 für "Ich war zuhause, aber…" mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, inszeniert hier eine sehr freie Variation des Ödipus-Mythos. Ein Säugling wird in einem Ziegenstall gefunden und von fremden Eltern aufgezogen. Nur wenige Schnitte später ist dieser Jon (Aliocha Schneider) schon ein junger Mann, der einen Mord begeht und im Gefängnis landet, wo Iro (Agathe Bonitzer) ihm die wunden Füße verbindet, um ihn bald darauf zu heiraten und eine Tochter zur Welt zu bringen. Die Erzählung erstreckt sich von der Peloponnes bis zum Berliner Potsdamer Platz in zumeist lang gezogenen, starren, klar kadrierten Kameraeinstellungen, in die sich das Geschehen hinein und wieder hinaus bewegt. Zweifellos erschafft Schanelec immer wieder Bilder von poetischer und mythischer Schönheit, versteht das Kino zuerst als Kunst- und erst danach als Erzählform, verliert sich aber auch etwas selbstverliebt in der eigenen Verschlüsselungstechnologie. Für die einen ein Meisterwerk hochintellektueller Filmkunst, für die anderen prätentiöses Hardcore-Arthaus – die Meinungen gingen bei keinem Film so weit auseinander. 

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Wer hat Chancen auf den Goldenen Bären der Berlinale?

Ans ganz andere Ende des cineastischen Universums konnte man mit dem mexikanischen Wettbewerbsbeitrag "Totem" von Lila Avilés reisen. Mit der Kamera kriecht sie fast hinein in die Großfamilie der siebenjährigen Sol, die gerade dabei ist, ihren krebskranken Vater zu verlieren. In emotionaler Hinsicht sicherlich einer der stärksten Filme des Wettbewerbs, der im wahrsten Sinne des Wortes hautnah an den Figuren entlang erzählt wird, ohne in Rührseligkeiten zu verfallen. Ähnliches lässt sich von der hinreißenden koreanisch-amerikanischen Produktion "Past Lives" von Celine Song sagen, die über zwei Jahrzehnte die Geschichte einer Kinder- und Jugendliebe im Zeitalter der Migration erzählt, und auch von "20.000 Species of Bees" der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren über ein achtjähriges Mädchen im Jungenkörper. Diesen drei Filmen dürfte man im Moment wohl die größten Chancen auf den Goldenen Bären einräumen, weil sie mit visueller Kraft gesellschaftliche Themen in intimen Geschichten absolut überzeugend verdichten. 

"Filme zu machen ist ein Risiko, bei dem einem das Herz brechen kann", sagte U2-Sänger Bono, der am Dienstagabend im Berlinale-Palast die gelungene Laudatio für den Goldenen Ehrenbären an Steven Spielberg für dessen Lebenswerk vortrug. Von den Dinosauriern bis zur Künstlichen Intelligenz habe Spielberg in seinen Filmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgelotet. "Je älter ich werde, desto mehr Erinnerungen an Verstorbene begleiten mich", sagte Spielberg in seiner Dankesrede. Dies habe zu seinem neuen Film "The Fablemans" geführt, in dem er sich mit seiner Kindheit und seiner Familie auseinandergesetzt habe. Eben die sei der Grundstein für jenes Lebenswerk, für das er heute ausgezeichnet werde. "Aber mit diesem Lebenswerk bin ich noch längst nicht fertig", sagte der sichtlich vitale 76-Jährige. Sein Vater Arnold sei schließlich 103 Jahre alt geworden.

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