Für die Erosion der Macht gibt es kein eindrücklicheres Bild als Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Der selbstgefällige Herrscher ist unfähig zu erkennen, dass der ihm aufgeschwatzte Kleiderprunk gar nicht existiert und er als Regent in Wirklichkeit nackt vor dem Volk steht.
Nicht anders ist es im realen Leben. So war es 1980 in Polen, als sich Werftarbeiter gegen den längst hohl gewordenen Parteiapparat erhoben und in den Streik traten. So geschah, geschieht es auch in anderen Ländern. Und so hat der Schweizer Filmemacher Andreas Hoessli seinem Filmessay über das Wesen von Revolutionen den Titel „Der nackte König“ gegeben, in Anlehnung an Andersen.
Das kalte Lächeln der Sicherheitsoffiziere
Hoessli hat die Erhebung gegen die Staatsmacht in Polen selbst miterlebt, als Stipendiat befand er sich damals zu Studienzwecken in dem noch kommunistisch regierten Land. Knapp vier Jahrzehnte später ist er mit einem Filmteam zurückgekehrt und erinnert sich an die Stimmung von damals: „Man weiß nicht, was geschehen wird. Aber etwas wird geschehen.“ Hoessli sichtet alte, teilweise heimlich gedrehte Aufnahmen der Proteste und recherchiert im Archiv – der polnische Geheimdienst hatte ihn ins Visier genommen und fast 500 Aktenblätter über ihn hinterlassen. Der Filmemacher spricht vor der Kamera mit ehemaligen Mitarbeitern des Sicherheitsapparats, und deren kalt lächelnde, von keinem Unrechtsbewusstsein angekränkelte Schilderung ihres einstigen Tuns gehört zu den eindrücklichsten Szenen des Films.
Seinerzeit als Student in Warschau war Hoessli fasziniert von den Reportagen des polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski, der gerade aus dem Iran zurückgekehrt war. Dort war Ähnliches geschehen wie in Polen – das Volk hatte erkannt, dass der König, der Schah, eigentlich nackt ist, und ging auf die Barrikaden. Mit der historisch bekannten Folge, der Übernahme der Macht durch den Ajatollah Chomeini. In seinem Film bezieht Andreas Hoessli die beiden so gut wie zeitgleich stattfindenden Revolutionen eng aufeinander. Auch im Falle des Iran führt er die entscheidenden Etappen in alten Filmausschnitten vor, und er reist, wie schon in das heutige Polen, auch in die Islamische Republik am Persischen Golf.
Immer wieder kommt Hoesslis Film dabei auf Kapuscinski zurück und auf dessen Gedanken über die Revolution. „Der Mensch schüttelt die Angst ab und fühlt sich frei“, hatte die polnische Reporterlegende erkannt und die Euphorie beschrieben, die durch die überwundene Angst entsteht und letztlich zur revolutionären Tat führt. „Vollkommen fremde Menschen spüren, dass sie sich gegenseitig brauchen“, notierte Kapuscinski in Danzig, wo die Gewerkschaft Solidarnosc unter ihrem Wortführer Lech Walesa die Arbeit niederlegte und einen Wandel der Verhältnisse einforderte.
Der Moment, wenn alles umschlägt
Kapuscinskis Analysen von Revolutionen sind nicht überholt, auch die Aufständischen heutiger Tage dürften sich in ihnen erkennen. Aber der klug beobachtende Pole hat auch den Moment erkannt, an dem das Hochgefühl des Anfangs verblasst und „alles umschlägt“. In Polen war das der Moment, als die Kommunisten die Panzer auffahren ließen und das Kriegsrecht verhängten. Im Iran trieben die Ereignisse den Schah zwar 1979 ins Exil, doch die Umwandlung in einen religiös-fundamentalistischen Staat brachte nicht die Freiheit, die sich große Teile der Bevölkerung erhofft hatten. Hier begann die Revolution, ihre Kinder zu fressen.
Hoesslis filmischer Essay liefert letztlich eine gedämpfte Sicht auf die Revolution, das zeigen die Bilder und Gespräche aus dem heutigen Iran wie auch aus Polen. Der Skeptizismus des Films wird auch getragen durch die Stimme, der die Off-Erzählung anvertraut ist. Es ist die leise, eindringliche Stimme von Bruno Ganz, für den „Der nackte König“ wohl eine der letzten Produktionen gewesen sein dürfte, bevor er im Februar 2019 starb.
"Der nackte König" im Streaming
Und doch zeigt der Film, wenn auch eher unterschwellig, dass das Potenzial für Revolutionen nicht erlischt. In Teheran begegnet Filmemacher Hoessli bei offiziellen Feierlichkeiten einer Gruppe junger Soldaten, die unbekümmert „Tod für Amerika“ und „Tod für Israel“ skandieren. „Das geht mir auf die Nerven“, kommentiert Hoessli im Film, und so versucht er, die töricht staatliche Parolen nachplappernden Soldaten seinerseits zu manipulieren, indem er ihnen vorschlägt, doch auch mal „Tod der Paprika“ zu rufen.
Und tatsächlich, das funktioniert, auch hier scheinen die jungen Männer sich nicht weiter mit Gedanken zu plagen. Als sie sich plötzlich aus dem Staub machen, ruft einer sogar noch in die Kamera: „Amerika ist meine große Liebe!“ Wer so wechselhaft die Staatsdoktrin überspringt, dem dämmert vielleicht eines Tages, dass die Macht, der er dient, nackt dasteht.
StreamingDDer Film „Der nackte König“ (108 Minuten) startet am 11. Februar, bedingt durch Corona jedoch nicht im Kino, sondern online. Kinos werden an den Einnahmen beteiligt.
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