Mit der Aussicht, dass es besonders gescheite Köpfe demnächst mittels künstlicher Intelligenz für jedermann möglich machen, ein Gemälde im Pinsel-Duktus Rembrandts zu konstruieren oder eine gepfiffene Küchenmelodie im Stile Johann Sebastian Bachs zu orchestrieren, sind die alljährlichen Aufführungen des Weihnachtsoratoriums der Augsburger Domsingknaben besonders wertvoll. Erklingt hier doch noch a) originaler schöpferischer Menschengeist bei b) ernsthafter Auseinandersetzung mit der einstigen Aufführungspraxis und c) voller ehrlichem Handwerk. Man singt, musiziert, dirigiert selbst. Wenn verschiedene Popstars mittels Hologramm „wiederbelebt“ werden können, könnte ja auch ein digital auferstandener J.S.B. gestenreich eine Wiedergabe seines Weihnachtsoratoriums anführen.
Aber diesbezüglich sind wir noch nicht auf den kosten- und musiker-, also menschensparenden Gedanken gekommen. Bis dahin bietet Augsburgs evangelisch Heilig-Kreuz einen edleren Rahmen als jeder screen. Und wenn sich dann noch – wie soeben zu erleben – ein wunderschönes Orgelpositiv erhebt, das Assoziationen an jene spätgotischen Instrumente weckt, wie sie beim Musizieren himmlischer Engelsheerscharen auf Gemälden zu betrachten sind, dann hört das Auge auch gleich noch mit. Eine Zeitreise in die Historie beginnt …
Der Domkapellmeister fordert von den Domsingknaben gesteigertes musikalisches Temperament ein
Die Reise beginnt so festlich, so jubilierend, ja triumphierend, dass man Bach schon fast entgegenhalten könnte, er habe den Höhepunkt seines Weihnachtsoratoriums allzu früh gesetzt, jede Steigerung sich selbst vereitelnd. Schnell unterdrückter „Szenenapplaus“ war in Heilig-Kreuz die Folge. Gewiss, die krönende Glanzlichter setzenden Trompeten kommen auch noch mal in der abschließenden sechsten Kantate zur Geltung, aber dann doch nicht ganz so prunkend wie zu den gesungenen Eingangsappellen „Rühmet, was heute der Höchste getan!“ und „Dienet dem Höchsten mit herrlichen Chören!“ Dass der nach wie vor junge Augsburger Domkapellmeister Stefan Steinemann, gerade wieder ausgezeichnet und geehrt, ein – im Vergleich zu den letzten Jahren – gesteigertes musikalisches Temperament einfordert von Domsingknaben und Orchester, und dies auch an anderer Stelle, verstärkte den starken Auftakt noch. Bislang begünstigte er vor allem die kontemplative Seite des Weihnachtsoratoriums; nun fordert er auch das beseelte Aus-sich-Herausgehen aller (Instrumental-)Stimmen andernorts, gleichsam als Statement. Was zu packend-voluminösen Situationen, größerer Suggestivkraft führt.
Besagte Zeitreise in die Historie wird – trotz des umfänglichen Knaben- und Jungmännerchors der Domsingknaben – vor allem durch die ganz jungen Gesangssolisten und durch das Barock-Orchester des anscheinend in Polen beheimateten Collegium Copernicus angeführt. Während viele andere Aufführungen des Weihnachtsoratoriums mit (erwachsenen) Solistinnen für die Sopran- und Alt-Arien arbeiten, setzt Stefan Steinemann auch hier auf seinen Sängernachwuchs; und das Collegium Copernicus musiziert auf (nachgebauten) historischen Instrumenten wie Naturhörner und Griffloch-Trompeten. Beide Entscheidungen führen zu wesentlichen, weil geschichtsbewusst-klanglichen, farblich reizvollen und plastischen Eindrücken; gleichzeitig sind sie aber natürlich auch ein ästhetisches Wagnis. Gerade auf dem Natur-Horn und der Griffloch-Trompete erstrahlt gewiss nicht jeder Ton so, wie er auf Ventilinstrumenten erstrahlen könnte; und die Stimmen der ganz jungen Knaben sind naturgemäß noch nicht voll entwickelt, tragend, ausgebildet.
Der Nachwuchs der Domsingknaben wird schon früh gefördert und gefordert
Da wird dann die eine oder andere Passage zu einem mitfiebernden Balance-Akt. Aber genau das geschieht zugunsten des Nachwuchses, der damit schon früh gefördert und gefordert wird – vor aller Ohren zu bestehen hat. Und letztlich taten dies auch bewundernswert Theo Kammer, Ferdinand Lidl, Jasper Bogatzki, Joseph Edin und Dominik Kögl im Angesicht anspruchsvoller Solo-Partien. Sie standen dem Tenor Martin Platz (Evangelist) zur Seite und dem Bassisten Sebastian Myrus, beide souveräne Gestalter ihrer Rezitative und Arien. Martin Platz bestach fokussiert-schlank, hell erstrahlend, koloraturenkettengeschmeidig; Sebastian Myrus durch eine milde, gleichwohl bestens prononcierende Tiefe. Die ewigen Text-, Melodie- und Harmonie-Schönheiten barocker Choräle aber, ob schlichter Natur oder komplexer Verarbeitung, lagen wieder bei den Domsingknaben in besten, da homogen vereinten Kehlen. Begeisterter Applaus.
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