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Festival: Filmfestival in Cannes: Kino im Experimentierlabor

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Filmfestival in Cannes: Kino im Experimentierlabor

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    Hollywood in Cannes: Baz Luhrmanns „Elvis“ mit Austin Butler (links) als Elvis Presley und Tom Hanks als dessen Manager Colonel Tom Parker.
    Hollywood in Cannes: Baz Luhrmanns „Elvis“ mit Austin Butler (links) als Elvis Presley und Tom Hanks als dessen Manager Colonel Tom Parker. Foto: dpa/Warner Brothers

    „Keiner hat eine Ahnung.“ Rund 40 Jahre ist es her, dass der legendäre Drehbuchautor William Goldman („Zwei Banditen“) diesen Satz prägte. Seinerzeit beschrieb er damit nur die ungewissen Erfolgsaussichten jedweden Filmprojekts. Doch heutzutage gilt das Diktum für die Perspektiven der Branche an sich.

    Filmfest in Cannes: Braucht es Monsterproduktionen und Spektakel?

    Die nagende Ungewissheit, ob das Kino in seiner traditionellen Form überhaupt noch eine Chance hat, ist auch in Cannes zu spüren. Bei einem Symposium zeigte sich sogar ein so scharfsinnig-pragmatischer Regisseur wie Guillermo del Toro („Shape of Water“) ratlos: „Es ändert sich nicht nur das Vertriebssystem für Filme, sondern auch die grundsätzliche Beziehung zum Publikum.“ Er verweist auch darauf, dass in den Algorithmen der Streamer, die Präferenzen ihrer Zuschauer dirigieren „mehr Filme aus der Vergangenheit schneller denn je zuvor verloren gehen“.

    Und die, die es ins Kino schaffen, werden von den Monsterproduktionen verschluckt. So geschehen beim Cannes-Eröffnungsfilm „Coupez“, der bei seinem Start in Frankreich gegen einen „Dr. Strange 2“ keine Chance hatte.

    Braucht es wirklich überdrehte Spektakel, werblich untermalt vom Getöse von Kampfjets, um in einer Welt schwindender Aufmerksamkeitsspannen zu bestehen? Inzwischen scheinen selbst die Streamer nicht mehr den erprobten erzählerischen Qualitäten – Stichwort „Geschichte und Charaktere“ – zu vertrauen. Bei der Abschlussstaffel von „Stranger Things“, die parallel zum Ende von Cannes anläuft, sind die Folgen laut Kritik noch mehr mit Action und Effekten aufgeblasen und erreichen prompt Spielfilmlänge. Wie heißt es im Song „Suspicious Minds“ eines gewissen Elvis Presley, über den noch zu sprechen sein wird? „We’re caught in a trap. I can’t walk out (Wir sind in einer Falle gefangen. Wir kommen nicht heraus).“

    Das Kino muss Entdeckungen wagen

    Doch was ist der Ausweg aus der Falle? Viggo Mortensen, Hauptdarsteller der Science-Fiction-Groteske „Crimes of the Future“, lobt dessen Regisseur David Cronenberg, der immer bereit zu neuen Entdeckungen sei. Natürlich mögen diese Trips ins Unbekannte auf den Holzweg führen, aber nur mit diesem Mut zum Risiko kann Kino wahren Erlebnis- und Erkenntniswert bieten. Indem es eben nicht das Vertraute wiederkäut. Dass Schauspielerinnen den Aufenthalt im Experimentierlabor schätzen, ist nicht verwunderlich. Iris Berben und Sunnyi Melles singen in Cannes das hohe Lied auf Regisseur Ruben Östlund, der sie mit „Triangle of Sadness“ auf die unbekannten Bahnen jenseits des deutschen Fernsehens führte. Selbst wenn das für Berben bedeutete, dass sie nur eine einzige Textzeile hatte, die sie in den verschiedensten Variationen sprechen musste.

    Der Mut, Grenzen zu überwinden, mag sich aber eben auch für den Zuschauer lohnen. Nicht zwangsläufig für die Besucher von „Crimes of the Future“, von denen manche bei der Premiere angesichts elaborierter Blut- und Gekröse-Sequenzen das Weite suchten. Aber etwa für das Publikum von Park Chan-wooks „Decision to leave“, das mit einer beklemmenden Wendung nach der anderen in ein hypnotisierendes Thriller-Vexierspiel hineingezogen wird.

    Filmfestival in Cannes: Iranische Filmemacher sind stark vertreten

    Filme sind immer auch Entdeckungsreisen in fremdartige Kulturen gewesen, die die eigene Welt zugleich hinterfragen und widerspiegeln. In diesem Jahr ist das in Cannes unter anderem im stark vertretenen iranischen Kino zu erleben. Und zwar nicht mit kunstvoll versponnenen Bildern, deren Ästhetik und Wirkung sich vornehmlich Cineasten erschließt, sondern hoch intensiven Geschichten voller zutiefst menschlicher Konflikte.

    Als zwischenzeitlicher Favorit auf die Goldene Palme wurde das Thrillerdrama „Holy Spider“ gehandelt, das sich an den realen Serienmorden an Prostituierten in der Pilgerstadt Maschad orientiert. Der exiliranische Regisseur Ali Abbasi vermeidet weitgehend die Klischees der handelsüblichen Heldenreise und vermittelt in schonungsloser Direktheit das Leid der Opfer und die perverse religiöse Logik des Täters. „Leila’s Brothers“ von Saeed Roustaee wiederum entfaltet ein komplexes Familiendrama wie ein klassischer Gesellschaftsroman. Einerseits lässt sich das fast dreistündige Epos, das keine Minute zu lang ist, als eine Parabel auf die spezifische Situation des Iran lesen, andererseits ist es emotional für Zuschauer jeglicher Provenienz allgemeingültig.

    Cannes zeigt, wie Kino ein Einlassen auf das Unbekannte sein kann

    So gesehen ist es nicht so schlimm, keine Ahnung zu haben. Denn nur, wer sich auf das Unbekannte einlässt, vermag Geschichten und Bilder zu entdecken, die „mind-blowing“ sind. Die den Verstand lüften und die Gefühle durcheinanderwirbeln. Dann ist das Kino keine reine Wohlfühl-Blase, in der beispielsweise die Proteste gegen den Ukraine-Krieg, die auch in der zweiten Hälfte des Festivals nicht verhallten, als Störfaktoren wahrgenommen werden.

    Das heißt nicht, dass die Filmemacher bei ihren Touren ganz auf einen Kompass verzichten sollten. Wie der aussieht, formulieren zum Beispiel die Filmemacher Adil el Arbi und Bilall Farah. Nachdem sie mit „Bad Boys for Life“ die Hollywoodmaschinerie bedient hatten, drehten die Belgier marokkanischer Abstammung das Kriegsdrama „Rebel“ über eine belgische Familie, die in den Alptraum des Islamischen Staats hineingezogen wird, und wurden damit nach Cannes eingeladen. Wenn das Duo behauptet, dieses Projekt sei seine „wahre Leidenschaft“ gewesen, dann ist das in der überbordenden Energie von Inszenierung und Dramaturgie auch zu spüren.

    "Elvis" von Baz Lurmann: Aus der Musik zieht der Film seine Energie

    Einen ähnlichen Fingerzeig bietet Baz Luhrmanns „Elvis“, nach „Top Gun 2“ das zweite große Hollywoodwerk des Festivals. Nachdem der Regisseur mit einem überdrehten Bilderreigen durch die ersten Jahrzehnte seines Superstars gewirbelt ist, tritt er auf einmal auf die Bremse. Denn der Titelheld, der in der Szene sinnigerweise in den zerfallenden Buchstaben des Hollywood-Zeichens sitzt, besinnt sich auf seine Wurzeln. Er will seine belanglosen Filme hinter sich lassen und wieder die Songs seiner Frühzeit singen, die seinem wahren Ich entsprechen. Und wenn sich der Film danach auf die Kraft dieser Musik konzentriert, entfaltet er auch seine größte Energie.

    Die Schlussfolgerung dieser Cannes-Impressionen wäre demnach: Die Erzähler des Kinos müssen nur den ureigenen Triebkräften folgen und sich damit ins Unbekannte begeben. Tun sie das, dann braucht man sich um die Zukunft dieser Kunstform keine Sorgen zu machen. Der Trip auf dem „Mystery Train“ wird so schnell nicht zu Ende sein.

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