Die „documenta fifteen“, die am Samstag offiziell in Kassel eröffnet wird, stellt ihrem Publikum erst einmal ein paar Lernaufgaben, zum Beispiel was gemeinschaftlich betriebene Reisscheunen in Indonesien mit einer Kunstausstellung zu tun haben. Am besten man vermerkt sich das gleich unter dem dazugehörigen indonesischen Begriff „Lumbung“, der so etwas wie das Motto der „documenta fifteen“ abgibt.
Damit ist man schon fast mittendrin bei dieser fünfzehnten Weltkunstausstellung, die zum ersten Mal von einem Kuratorenkollektiv geleitet wird. Ruangrupa, so heißt das indonesische Kollektiv mit dem documenta-Ansatz der anderen Art, will zum Beispiel nichts mit dem heiß gelaufenen Weltkunstmarkt zu tun haben. Im Vorwort des Begleitbuchs zur Schau steht durchaus wie eine Kampfansage: „Wird auf der „documenta fifteen“ die dringend erforderliche Auflösung von Eigentümerschaft und Autorschaft möglich sein?“
Galeristinnen und Galeristen, die im Hintergrund der documenta Geschäfte machen, werden es 2022 schwierig haben. Die Kuratoren haben oft Kunst gesucht, die im realen Leben der Menschen funktioniert, die nicht nach einem individuellen Ausdruck strebt, also auch nicht gut für sich allein steht und dann auch nichts für Galerien oder Museen ist.
Bei der Documenta bedeutet Kunst auch mal gemeinsamen Kochen und Singen
Dem entgegen setzt Ruangrupa „Lumbung“, die landwirtschaftliche Praxis in Indonesien, den Überschuss an Reis miteinander in einer Scheune zu teilen und gemeinsam darauf zuzugreifen.
Die ersten Eindrücke von der documenta zeigen gleich: Ruangrupa machen ernst damit. Sie haben vor allem weitere Kollektive eingeladen, die wiederum dazu aufgefordert wurden, ihre Fühler nach anderen Gruppen oder Künstlerinnen und Künstlern auszustrecken. In Majelis, wieder so ein „documenta-fifteen“-Wort, dieses Mal aus dem Arabischen, in Majelis (Zusammenkünften) hat Ruangrupa diese Ausgabe kuratiert, das Geld gemeinschaftlich aufgeteilt, erst einmal einen verschlungenen Prozess an weltumspannenden Videokonferenzen (in der Planungsphase während Corona) gestartet, dann auch die konkrete Gestaltung gemeinsam besprochen und ausgehandelt.
Bestes Beispiel für die Andersartigkeit ist das Fridericianum, einer der zentralen Ausstellungsorte einer jeden Documenta. Dort gibt es den Fridskul zu sehen, einen großen Raum im Erdgeschoss, den sich elf Kollektive teilen, in dem sie Versammlungen abgehalten haben und abhalten werden. Ein Ort zum Reden, Beschließen, aber auch Kochen und Singen – nur kein Schauraum. Deshalb sind dort auch keine Kunstobjekte im klassischen Sinn zu finden, die für sich stehen und sprechen können.
In diesem Stil setzt sich das fort. The Black Archives, ein niederländisches Kollektiv, präsentiert Teile seiner Sammlung, die die Geschichte der Schwarzen, nicht-westlichen Bevölkerung behandelt. Wie sah zum Beispiel der Rassismus im 19. Jahrhundert aus? Und von was handelte der Briefwechsel von Johann Wolfgang von Goethe mit Samuel Thomas von Soemmering? Letzterer wird von The Black Archives als wissenschaftlicher Rassist bezeichnet. Ganz anders das, was das tunesische Kollektiv El Warcha eingerichtet hat: eine Werkstatt für Do-it-yourself-Vorhaben, angereichert mit selbst gebauten Designobjekten.
Das schafft Irritationen. Und man muss sagen: endlich. Denn die Irritationen, die ein halbes Jahr vor dem Start in Deutschland einsetzten, drohten die documenta mit einem anderen Thema zu überlagern: Wie umgehen in Deutschland mit dem BSM, der Boykott-Bewegung gegenüber Israel?
Ruangrupa und dem von ihnen eingeladenen palästinensischen Kollektiv The Question Of Funding wurde in einer nicht enden wollenden medialen Diskussion vorgeworfen, mit BDS zu sympathisieren, gleichzeitig israelische Künstlerinnen und Künstler zu boykottieren und antisemitisch eingestellt zu sein. Eine Diskussionsreihe, die das alles im Vorfeld zum Thema hätte machen sollen, wurde auf massive Kritik des Zentralrats der Juden an der Auswahl der Podienteilnehmerinnen und -teilnehmer abgesagt. Schweigen statt Verständigung. Die Vorwürfe konnten weitgehend ausgeräumt werden. The Question Of Funding hat sich am ersten Preview-Abend wohl einen kleinen Scherz auf die Debatte erlaubt und zur BDSM-Party in seine Räume eingeladen. Alles nur ein Missverständnis? Ein Buchstabenfehler?
Bruce Lee grüßt Karl-Heinz Rummenigge in den Slums von Kampala
Jetzt kann es sein, dass die Diskussion im Vorfeld von einer neuen abgelöst wird: Was ist zu sehen? Ja, man ist da an einigen Orten gezwungen, das zu sehen, was im Hintergrund abläuft, oft jenseits der Öffentlichkeit, etwa „Making Friends“, wie es auf einigen Protokoll-Skizzen zu lesen ist. Das Präsentierte wirkt an der einen oder anderen Stelle mehr als Beiwerk fürs Publikum, nicht als Kern der Arbeit.
Dafür bietet diese documenta ihren Besucherinnen und Besuchern neue Erfahrungen: Viele Workshops, unter anderem etwa auch darüber, wie man mit möglichst wenig Geld Filme drehen kann. Das Wakaliga Studio aus Uganda weiß, wie man Action-Filme in den Slums von Kampala für 200 Dollar dreht. Eine Filmempfehlung der anderen Art ist zum Beispiel „Football Kommando“ von Wakaliga Studio, extra gedreht für die documenta mit einem Gastdarsteller aus Deutschland. Das Publikum bekommt einen Film zwischen Kung-Fu-Trash und Telenovela vorgesetzt, Bruce Lee grüßt Karl-Heinz Rummenigge in den Slums von Kampala, gekämpft wird 75 Minuten lang mit Füßen, Fäusten, Spielzeugwaffen und Fußbällen, am Ende sind alle wohlauf und winken in die Kamera.
Wieder gilt es auch, die Stadt Kassel mitzuerkunden. Es warten einige Überraschungen auf dem Weg, etwa im Arbeiter-Stadtteil Bettenhausen oder an der Fulda. Dort erinnert die vietnamesische Künstlerin Nguyen Trinh Thi an die Gefangenenlager in Nordvietnam und spannt ein Band zwischen dem Tam-Dao-Chiliwald, in dem in den 1960er Jahren Gefangene des kommunistischen Regimes geflüchtet sind, nach Kassel. Die Winddaten in Vietnam dirigieren eine Soundcollage und ein Schattenspiel von Chilipflanzen an der Wand, der Schatten der Geschichte, der immer mehr verblasst.
Zu entdecken gibt es in den nächsten 100 Tagen in Kassel viel. Bis zum 25. September dauert diese „documenta fifteen“, 100 Tage. Wobei Ruangrupa hoffen, dass diese Ausgabe eine Langzeitwirkung entfaltet, das Angestoßene von den Kollektiven fortgesetzt wird, die Zusammenarbeit weitergeht.