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Enthüllt: Siegfried Unselds mysteriöser Brecht-Tagebuch-Fund

Literatur

Der legendäre Suhrkamp-Verleger und sein mysteriöser Brecht-Fund

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    Siegfried Unseld im Zug lesend, unterwegs mit der SBB.
    Siegfried Unseld im Zug lesend, unterwegs mit der SBB. Foto: Suhrkamp Verlag

    Wie kein anderer Verlag hat der Suhrkamp Verlag das literarische und geistige Leben der Bundesrepublik in den 1960er und 70er Jahren geprägt. Entscheidenden Anteil daran hatte der legendäre Verleger Siegfried Unseld, der als Nachfolger von Peter Suhrkamp von 1959 bis zu seinem Tod 2002 den Verlag leitete. Er gab der „Suhrkamp-Kultur“ ihr Profil durch die Erweiterung des literarischen Verlags um die Bereiche Philosophie und Gesellschaftstheorie mit Autoren wie Adorno, Benjamin und Habermas. Die wichtigste wirtschaftliche Basis bildeten aber lange Zeit die glänzenden Verkaufserfolge von Dichtern wie Hermann Hesse und Bertolt Brecht, die schon unter dem Gründer Peter Suhrkamp zum Verlag gekommen waren. Davon ausgehend folgten ihnen die zahlreichen bedeutenden Schriftsteller der Nachkriegszeit Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger und Thomas Bernhard bis hin zu Peter Handke.

    Unselds Einfluss auf die Suhrkamp-Kultur der 60er und 70er

    Bekannt war, dass Siegfried Unseld seit 1970 bis zu seinem Tod 2002 eine Chronik führte, tagebuchartige Aufzeichnungen, Notizen und Reiseberichte. Sie sollten Rechenschaftsberichte und Grundlage für eine künftige Verlagsgeschichte sein. Die Erwartungen an diese Chronik waren groß, versprach sie doch über den Einblick in den Suhrkamp-Kosmos hinaus Aufschluss über den Kulturbetrieb der Zeit überhaupt. Als herausragendes Ereignis der Feiern zum hundertsten Geburtstag Unselds gilt deshalb die Tatsache, dass der Verlag die Chronik von 1970 bis 1993 online frei zugänglich gemacht. Nach und nach sollen auch die folgenden Jahre unter Einhaltung der üblichen Sperrfrist von 30 Jahren ins Netz gestellt werden, insgesamt 7000 Seiten.

    Mitten unter der Schilderung der verlegerischen Arbeit und der Begegnungen mit zahlreichen Autoren wird auch unbeabsichtigt eines der größten Geheimnisse um die Herkunft eines der wichtigsten dichterischen Zeugnisse des jungen Brecht gelüftet. Als geradezu sensationelle und gleichzeitig mysteriöse Entdeckung feierte Siegfried Unseld den „Fund“ eines Tagebuchs des fünfzehnjährigen Augsburger Gymnasiasten aus dem Jahre 1913 mit zahlreichen dichterischen Texten. Dieses angebliche „Tagebuch No. 10“ des jungen Brecht gab Unseld deshalb umgehend selbst mit einem Vorwort aus seiner Feder in einer aufwendigen Faksimile-Edition im Schuber mit Transkription und Kommentar im Herbst 1989 heraus. Bis Weihnachten dieses Jahres hatten sich von der Auflage von 1200 Exemplaren immerhin schon tausend zum damals stolzen Preis von 240 Mark verkauft.

    Siegfried Unseld berichtet genau über die Umstände des mysteriösen Funds

    In der jetzt freigeschalteten Chronik berichtet Unseld genau über die bis heute in der Öffentlichkeit unbekannten Umstände des mysteriösen Funds. Am 10. März 1989 fährt er nach Darmstadt zu Frau Britta Roeder, der Tochter Walter Brechts. Der jüngere Bruder Bertolt Brechts Walter war seit 1931 Inhaber des Lehrstuhls für Papierfabrikation an der Technischen Hochschule in Darmstadt und lebte dort bis zu seinem Tod im Jahre 1986. Seine Tochter hatte danach den Nachlass gesichtet und dabei „phantastische Entdeckungen“ gemacht, wie Unseld schreibt.

    Als „Juwel“ im Nachlass sieht er sofort das Tagebuch des jungen Brecht an und bietet Frau Roeder „unter Zusicherung absoluter Vertraulichkeit“ DM 75.000 an: „Ich kann das ja in Augsburg gekauft haben.“ Walter Brecht hatte nach dem Tod des Vaters im Jahre 1939 den gesamten Nachlass von Augsburg nach Darmstadt geholt, wo er eine geräumige Villa besaß. Darunter befanden sich viele Zeugnisse und Dokumente aus der Kindheit und Jugendzeit seines Bruders, die dieser bei seinem Vater zurückgelassen hatte und die nie gründlich gesichtet werden konnten. Deshalb waren darunter sogar 29 Briefe an seine Augsburger Jugendliebe Paula „Bi“ Banholzer völlig unbekannt, bis sie 1992 veröffentlicht werden konnten.

    Abgesehen von dem Tagebuch aus dem Jahr 1913 blieb der eigentliche Nachlass zusammen. Einige Monate nach Unseld konnte der Autor dieser Zeilen ebenfalls nach Darmstadt pilgern und mit der Hilfe von Clemens Haindl, der die gesamten Kosten für den Ankauf übernahm, noch 1989 den Nachlass des jungen Brecht für die Staats- und Stadtbibliothek Augsburg erwerben. So wanderten frühe Briefe, Gedichte, Dokumente wie Brechts Militärpass, Photoalben und das Tauf- und Konfirmationsbesteck nach Augsburg. Dreingabe war dazu das Schlafzimmer der Mutter. Aus dieser bedeutendsten Erwerbung der Staats- und Stadtbibliothek in ihrer jüngeren Geschichte stammt heute der Grundstock der im Brechthaus ausgestellten Originale.

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    Helmut Gier, 1947 in Augsburg geboren, war von 1985 bis 2012 Direktor der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg.

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