Eine Doppelbiografie von Bertolt Brecht und Lotte Lenya? Weshalb die Sängerin und Schauspielerin Lenya an der Seite Brechts und nicht Helene Weigel, seine Ehefrau und ebenfalls berühmte Schauspielerin? Oder wenn schon Lenya, warum dann nicht eine Biografie im Doppel mit deren Mann, dem Komponisten Kurt Weill?
Es gibt durchaus Gründe, weshalb Brecht und Lenya ein ergiebiges Gespann für eine Doppelbelichtung ergeben. Das gemeinsame Geburtsjahr 1898 ist dabei nur der äußere Rahmen für parallele Lebensgänge, die in ihren Anfängen unterschiedlicher nicht sein könnten, dennoch beide Male in künstlerische Berufe führen und dort, wo sie beiderseits am erfolgreichsten sind, auch in eine Zusammenarbeit der beiden Protagonisten münden: die "Dreigroschenoper". Dass gerade Letzteres nicht ohne Kurt Weill zu haben ist, versteht sich von selbst, entsprechend hat auch der Doppelbiograf Jürgen Hillesheim sein Duo Brecht/Lenya, wo es geboten schien, zum Trio erweitert. Was an entsprechenden Etappen vice versa für Brechts Partnerinnen gilt.
Über Bertolt Brecht sind die Regalmeter an Schrifttum, die zu seinem Leben und Werk vorliegen, inzwischen kaum mehr zu zählen; Jürgen Hillesheim, Leiter der Augsburger Brecht-Forschungsstätte, hat als unermüdlicher Forscher seinerseits Erhebliches dazu beigetragen. Noch einer Gesamtschau auf den Dramatiker und Theatertheoretiker hätte es also nicht unbedingt bedurft.
Der Reiz der Brecht-Abschnitte des Buchs liegt dann auch ganz erheblich in der Souveränität, mit welcher Hillesheim das ausufernde Material auf das Wesentliche reduziert und auch Strittiges auf den Punkt zu bringen versteht, etwa zu Brechts Haltung dem Marxismus gegenüber. Der "interessierte ihn vornehmlich als Instrument, wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen begreifen zu können, um sie dann gegebenenfalls in seinen Werken darstellen zu können", schreibt Hillesheim. "Mit dessen Ideologie beziehungsweise dem Klassenkampf hatte er wenig zu schaffen." Bündiger kann man den "Kommunisten" Brecht nicht auf den Punkt bringen. Dennoch ist Hillesheim weit davon entfernt, Brecht einer Weißwäsche zu unterziehen, auch nicht bei Klassikern des BB-Diskurses wie seinem Verhältnis zu Frauen oder seinem Lavieren gegenüber der DDR-Führung.
Schon mit elf Jahren ging Lenya der Prostitution nach
Ist Brechts Leben seit langem minutiös und nach wissenschaftlichen Standards dokumentiert, so verhält es sich anders mit Lotte Lenya, entsprechend wenig ist über sie auch auf dem Buchmarkt erhältlich. Insofern füllt Hillesheims Doppelbiografie eine Lücke, auch wenn es sich hier wesentlich um Sichtung und Neubewertung bereits vorhandener Publikationen handelt, Lenyas Autobiografie vorneweg.
Gerade über die frühen Jahre der als Karoline Blamauer in Wien Geborenen liegt wenig Dokumentarisches vor. Umso mehr gelingt es Hillesheim, das bedrückende Aufwachsen in Armut und allgemein prekären Verhältnissen eindrücklich zu zeichnen. Der Vater will Karoline nach dem Bild seiner ersten allzu früh gestorbenen Tochter formen, wofür er vornehmlich Gewalt einsetzt. Dennoch gelingt bereits der jungen Karoline eine Art "Befreiung", paradoxerweise, indem sie "schon im Alter von elf Jahren" ihren Körper verkauft. Hillesheim beruft sich hier auf spätere Selbstzeugnisse Lenyas und schreibt: "Es kann keine Zweifel geben: Die kleine Karoline Blamauer war Opfer der Verhältnisse, des dumpfen proletarischen Umfelds ebenso wie des gewalttätigen Vaters."
In Zürich wird aus Karoline Blamauer Lotte Lenya
Es gehört jedoch zu den Qualitäten des Buchs, dass Hillesheim auch solche scheinbar eindeutige Erfahrungen hinterleuchtet mit anderen autobiografischen Aussagen: "... später erzählte sie immer wieder – und auch Brecht gegenüber – offen von ihrer Vergangenheit und davon, dass sie freiwillig der Prostitution nachgegangen sei".
Die "Selbstfindung" der jungen Frau gelingt erst in Zürich, wo Karoline sich am Theater bewirbt – und wo sie auf Anraten eines Gönners ihren Namen ändert in Lotte Lenya (den Familiennamen nach einer Tschechow-Figur). "Kurz, prägnant, schmissig" sollte er sein, in diesen Attributen gar nicht unähnlich dem Namen eines aufstrebenden Dichters, Bert Brecht. Noch vor diesem, im Herbst 1921, siedelte Lotte Lenya in der Hoffnung auf künstlerische Weiterentwicklung nach Berlin über, und hier fand dann für ein gutes Jahrzehnt wohl tatsächlich jenes "wilde Leben" statt, mit dem der Untertitel der Doppelbiografie zu locken versucht und den der Autor auch keineswegs lustlos bedient. Lenya jedenfalls, entschlossen, ihre Herkunft hinter sich zu lassen, stürzte sich in Affären mit Männern wie Frauen unter Vermeidung tieferer Bindung, Musterbild einer selbstbestimmten Frau. Bis sie Kurt Weill kennenlernt, den sie heiraten wird.
Streitpunkt zwischen Lenya, Weill und Brecht ist die "Dreigroschenoper"
Mit Weill tritt für Lenya auch Brecht ins Leben und damit dessen Vorstellung einer Bühnenkunst, die gerade nicht illusionistisch sein soll, ein Verfahren, das Lenya übernimmt und das ihren Stil als Interpretin für immer kennzeichnen wird. Brecht/Weills "Dreigroschenoper" gerät zum überwältigenden Erfolg, Lenya wird zur idealtypischen Interpretin der Songs des Autorenduos – das sich über dem Erfolg entzweit, weil Brecht seinen Kompagnon vertraglich über den Tisch gezogen hatte. Weshalb nicht nur Weill, sondern auch seine Frau dem Dichter fortan mit Argwohn gegenübertritt.
Später, als sie alle ins Exil geflohen sind, wird sich das Verhältnis umkehren, wird der finanziell bedürftige Brecht an den in den USA inzwischen recht erfolgreichen Weill herantreten mit der Bitte, die Musik der "Dreigroschenoper" doch freizugeben für eine Bearbeitung durch eine farbige Theatergruppe, doch Lenya grätscht dazwischen und rät ihrem Ehemann: "Nix da!" Die Invektiven, die Lenya wie Brecht über den jeweils anderen gegenüber Dritten äußern, lassen in ihrer Deutlichkeit auch nichts zu wünschen übrig. Für Brecht ist Lenya "ein dummes Luder ... wirklich blöd, wahrscheinlich verbroadwayt"; umgekehrt, O-Ton Lenya, "dieser stupide Brecht, dieser chinesisch-augsburgische Hinterwäldler-Philosoph".
In der Zusammenarbeit steckt viel von der Weimarer Republik
Nach der gemeinsamen Exil-Station USA gehen die Wege wieder auseinander. Brecht, der mit dem amerikanischen Kulturleben hadert, kehrt nach Europa zurück, entwirft Modellinszenierungen für seine großen Dramen, stirbt 1956 in Ostberlin. Lenya bleibt auch nach dem Tod ihres Mannes in den Staaten, ist längst Amerikanerin geworden, feiert Erfolge als Interpretin der Songs ihres Mannes, vor allem jener nach Texten von Brecht, wird Broadway-, ja sogar noch Filmstar, unvergessen ihr "kommunistisches Flintenweib" (Hillesheim) im James-Bond-Film "Liebesgrüße aus Moskau".
Drei Ehen geht sie noch ein, stirbt mit 83 Jahren in New York. Fraglos ein besonderes, erzählwürdiges Leben. Fraglos auch, dass das Leben der Lotte Lenya nicht ohne Brecht zu erzählen ist – und beider Biografie nicht ohne Kurt Weill. Das weiß auch Jürgen Hillesheim, der seine gelungene wechselseitige Spiegelung auf den Nenner bringt: "Die Symbiose aus Brechts Lyrik, Weills Kompositionen und Lenyas Interpretationskunst wurde nie wieder erreicht. Nichts repräsentiert die Kultur der Weimarer Republik ... besser und eindringlicher als diese Zusammenarbeit."
Jürgen Hillesheim: Lotte Lenya und Bertolt Brecht. Das wilde Leben zweier Aufsteiger. Wbg Theiss, 320 S., zahlr. Abb., 25 €.